Was meint rechtfertigende Pflichtenkollision?

Entsprechend dem geschilderten Beispiel können Klausurfälle so konstruiert sein, dass der Täter mehrere gleichwertige Handlungspflichten zugleich hat (bspw. die Pflicht zur Rettung der Leben zweier Kinder vor dem Ertrinken), die real-physisch aber nicht alle erfüllt werden können.
Man spricht dann von kollidierenden Handlungspflichten, weil der Täter nur einer auf Kosten der anderen nachkommen kann.
 


Wo wird die Pflichtenkollision im Prüfungsaufbau eines Unterlassungsdelikts relevant?

Fraglich ist, ob der Täter in der konkreten geschilderten Situation überhaupt verpflichtet sein konnte, beide Kinder zu retten. Aufgrund der tatsächlichen Umstände war er nicht in der Lage, beide Kinder zu retten. Ihm kann daher nach dem Satz „impossibilium nulla est obligatio“ (dt.: „zum Unmöglichen besteht keine Verpflichtung“) bzw. „ultra posse nemo obligatur“ (dt.: „über sein Können hinaus ist niemand verpflichtet“) nur verpflichtet gewesen sein, eines der beiden Kinder zu retten.

Da es um die gleiche Gefahr, nämlich Lebensgefahr, für das gleiche Rechtsgut (menschliches Leben) ging, hatte der Täter ein Wahlrecht, welches der beiden Kinder er rettet. Diese Pflicht erfüllt er, indem er eines der beiden Kinder rettet. Zur Rettung auch des anderen Kindes ist er nicht verpflichtet.

Nach einer Ansicht wird deshalb vertreten, dass bereits der objektive Straftatbestand des Unterlassungsdeliktes aufgrund des ultra-posse-Prinzips nicht erfüllt ist, da mit der Pflicht zur Rettung auch des anderen Kindes etwas Unmögliches von dem Täter verlangt würde. Sofern allerdings der Täter subjektiv davon ausgeht, dass er die Möglichkeit zur Rettung beider Kinder hatte, ist darüber hinaus eine Versuchsstrafbarkeit zu prüfen.

Nach der h.M. wird das Problem jedoch auf der Rechtfertigungsebene verortet, wo es unter dem Stichwort der „rechtfertigenden Pflichtenkollision“ behandelt wird. Dann wären auf Tatbestandsebene nur die übrigen Tatbestandsvoraussetzungen kurz zu prüfen, also Eintritt des Taterfolges, Unterlassen, hypothetische Kausalität, Garantenstellung und objektive Zurechnung.

Es gibt also verschiedene Ansichten bezüglich der Verortung des Problems innerhalb der Klausur. Grundsätzlich bleibt es den Bearbeitern überlassen, ob sie das Problem auf der Tatbestands- oder Rechtswidrigkeitsebene erörtern, zumal man auch über die Rechtswidrigkeitseben zu einer Versuchsstrafbarkeit gelangen kann. Ebenso vertretbar wäre es, das Problem auf der Tatbestandsebene i.R.d. Quasi-Kausalität zu diskutieren.
 


Wie prüfe ich das Problem der rechtfertigenden Pflichtenkollision konkret?

Wenn man das Problem mit der herrschenden Meinung auf Rechtfertigungsebene verortet, leitet man dies zunächst mit dem Obersatz ein, dass der Täter durch eine rechtfertigende Pflichtenkollision gerechtfertigt sein könnte. Eine solche wäre dann zu bejahen, wenn der Pflichtadressat von zwei gleichwertigen Handlungspflichten, von denen er nur eine erfüllen kann, eine erfüllt.

Der Pflichtadressat muss in objektiver und subjektiver Hinsicht den Rechtfertigungstatbestand erfüllen. Mit einer wenig vertretenen Ansicht ist der Täter auch ohne subjektives Rechtfertigungselement gerechtfertigt. Dies ist jedoch nicht mehr vertretbar, seit der untaugliche Versuch mit § 23 Abs. 3 StGB eindeutig unter Strafe gestellt wurde. Denn damit ist nunmehr klar, dass auch das unmittelbare Ansetzen in entsprechender Gesinnung strafbar ist, ohne dass das Verhalten in objektiver Hinsicht strafbar zu sein braucht. Mit dem subjektiven Rechtfertigungselement würde auch der Teilunrechtsgehalt, der auf die Verwirklichung des subjektiven Tatbestandes entfällt, neutralisiert.

Konkret bedeutet dies, dass bei der rechtfertigenden Pflichtenkollision also die verpflichtete Person in Kenntnis der Kollisionslage handeln muss. Wenn die subjektive Rechtfertigungslage nicht gegeben ist, ist umstritten, was daraus für die Strafbarkeit des Täters folgt. Nach einer Ansicht sei der Täter nicht gerechtfertigt und folglich wegen des vollendeten Deliktes zu bestrafen. Nach anderer Ansicht sei der Täter nur wegen Versuchs zu bestrafen. Überzeugener erscheint es, den Täter allenfalls wegen Versuchs zu bestrafen, da das Erfolgsunrecht mit dem Vorliegen der objektiven Rechtfertigung nicht verwirklicht wurde, was gerade typisch ist für die Versuchsstrafbarkeit.


Repetitorentipp: „Ein brisantes Examensthema, das tiefgreifend in der Klausur abgearbeitet werden muss!“


Ihr Team der Akademie Kraatz und der Assessor Akademie



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