Abgrenzung bedingter Vorsatz (dolus eventualis) und bewusste Fahrlässigkeit

17.04.2024 | von Hendrik Heinze
Dem dolus eventualis kommt als dritter Form des Vorsatzes und seiner geringsten Ausprägung rechtsdogmatisch v.a. die Aufgabe zu, den Vorsatz von der bewussten Fahrlässigkeit abzugrenzen.

Vorsatz

Nach § 15 StGB ist grds. nur ein vorsätzliches Handeln strafbar, es sei denn, der Gesetzgeber bedroht ein fahrlässiges Handeln ausdrücklich mit Strafe.
Vorsatz ist das Wissen und Wollen (Wissens- und Willenselement) bzgl. der Tatbestandsverwirklichung zu dem Zeitpunkt der Tatbegehung (Simultanitätsprinzip / Koinzidenzprinzip i.S.d. § 8 StGB i.V.m. § 16 I StGB).
Die maßgebliche Tatzeit gem. § 8 StGB bestimmt sich hierbei allgemein danach, wann der Täter einen ursächlichen Beitrag zur Tatbestandsverwirklichung leistet oder leisten will. Der Zeitpunkt des tatbestandlichen Erfolgseintritts ist in diesem Zusammenhang hingegen unerheblich, so dass der Vorsatz nicht bis zur Tatbestandsverwirklichung vorliegen muss. Entscheidend ist vielmehr derjenige Zeitpunkt, zu dem der Täter die Beherrschbarkeit der Tatbestandsverwirklichung aus der Hand gibt bzw. geben will (vgl. Fischer, § 8 StGB Rn. 3, § 15 StGB Rn. 4).

Formen des Vorsatzes

Es sind die folgenden 3 Formen des Vorsatzes zu unterscheiden:

Bedingter Vorsatz (Eventualvorsatz)

Der dolus eventualis zeichnet sich dadurch aus, dass bei ihm sowohl das Wissenselement als auch das voluntative Element (der Wille) nur schwach ausgeprägt sind (Wessels / Beulke / Satzger, Strafrecht Allgemeiner Teil, § 7 Rn. 331).
Deshalb liegen der dolus eventualis und die bewusste Fahrlässigkeit strukturell nah beieinander. So ist ihnen gemein, dass der Täter um die Möglichkeit weiß, dass sein Verhalten einen tatbestandlichen Erfolgseintritt herbeiführt (Wissenselement). Der wesentliche Unterschied zwischen den beiden Fallgruppen betrifft das Willenselement. Denn während der Täter bei dem Eventualvorsatz den Eintritt des tatbestandlichen Erfolgs billigend in Kauf nimmt (sich also mit dem Risiko des Erfolgseintritts abfindet), vertraut er bei einem bewusst fahrlässigen Handeln pflichtwidrig auf ein Ausbleiben des Erfolgseintritts (Wessels / Beulke / Satzger, Strafrecht Allgemeiner Teil, § 7 Rn. 333). Mithin ist der Fahrlässigkeitstäter mit der als möglich erkannten Tatbestandsverwirklichung nicht einverstanden.

Abgrenzung von bedingtem Vorsatz und bewusster Fahrlässigkeit

Wie die Abgrenzung von dolus eventualis und der bewussten Fahrlässigkeit im Detail erfolgen soll, ist ein klassischer Streit aus dem Strafrecht AT. 

Eine Ansicht (Möglichkeitstheorie)

Die Möglichkeitstheorie stellt bei der Bestimmung des Eventualvorsatzes nur auf das Wissenselement ab. Nach ihr handelt der Täter mit dolus eventualis, wenn er den Erfolgseintritt für möglich gehalten und trotzdem gehandelt hat (Schmidhäuser, GA 1958, 161, 180).

Andere Ansicht (Wahrscheinlichkeitstheorie)

Die Wahrscheinlichkeitstheorie stellt wie die Möglichkeitstheorie bei der Bestimmung des bedingten Vorsatzes nur auf das Wissenselement ab. Nach ihr handelt der Täter bedingt vorsätzlich, wenn er die Erfolgsrealisierung für wahrscheinlich gehalten und trotzdem gehandelt hat.
„Wahrscheinlichkeit“ erfordert in diesem Sinne nicht, dass der Täter den Erfolgseintritt für überwiegend wahrscheinlich hält, es reicht aber auch nicht aus, dass ihm der Eintritt des Erfolgs bloß als „möglich“ erscheint (Kargl, Der strafrechtliche Vorsatz auf der Basis der kognitiven Handlungslehre, S. 67 ff.).

Weitere Ansicht (Gleichgültigkeitstheorie)

Die Gleichgültigkeitstheorie stellt bei der Bestimmung des Eventualvorsatzes sowohl auf das Wissens- als auch auf das Willenselement ab. Nach ihr handelt der Täter mit dolus eventualis, wenn er die konkrete Möglichkeit des Erfolgseintritts erkannt und aus Gleichgültigkeit ggü. dem geschützten Rechtsgut trotzdem gehandelt hat (Engisch, NJW 1955, 1688 f.).

Weitere Ansicht (Ernstnahmetheorie der h.L.)

Die Ernstnahmetheorie stellt wie die Gleichgültigkeitstheorie bei der Bestimmung des bedingten Vorsatzes sowohl auf das Wissens- als auch auf das Willenselement ab. Nach ihr handelt der Täter mit dolus eventualis, wenn er die konkrete Möglichkeit des Erfolgseintritts erkannt, die betreffende Gefahr ernst genommen, sich mit dem Risiko der Tatbestandsverwirklichung abgefunden und trotzdem gehandelt hat (Köhler, JZ 1981, 35 f.).

Weitere Ansicht (Einwilligungs- und Billigungstheorie des BGH)

Die Einwilligungs- und Billigungstheorie stellt wie die Gleichgültigkeitstheorie und die Ernstnahmetheorie bei der Bestimmung des Eventualvorsatzes sowohl auf das Wissens- als auch auf das Willenselement ab. Nach ihr handelt der Täter mit dolus eventualis, wenn er die konkrete Möglichkeit des Erfolgseintritts erkennt und trotzdem handelt, weil er die Tatbestandsverwirklichung billigend in Kauf nimmt (BGHSt 7, 363; 36, 1; 44, 49; 51, 18).

Stellungnahme zur Abgrenzung bedingter Vorsatz / Fahrlässigkeit

In den praktischen Ergebnissen decken sich die Theorien, die bei der Bestimmung des bedingten Vorsatzes sowohl auf das Wissens- als auch auf das Willenselement abstellen. In diesem Sinne kann eine Streitentscheidung zwischen diesen Ansichten dahinstehen.
Im Zweifel ist jedoch der Einwilligungs- und Billigungstheorie zu folgen, da mit ihr am klarsten zwischen dem bedingten Vorsatz und der Fahrlässigkeit differenziert werden kann. Gerade gegen die Gleichgültigkeitstheorie spricht, dass der Nachweis einer indifferenten Haltung des Täters in der Praxis nur schwer zu führen ist.
Sämtliche Theorien, die bei der Bestimmung des Eventualvorsatzes nur auf das Wissenselement abstellen, verkennen hingegen, dass eine vorsätzliche Tatbegehung nicht nur aus einer wissentlichen, sondern auch aus einer willentlichen (voluntativen) Komponente besteht. So kann es i.R.d. Strafbarkeitsbegründung wegen einer schwereren Vorsatzstrafbarkeit bzw. einer geringeren Fahrlässigkeitsstrafbarkeit nicht gleichgültig sein, welche Erwägungen (bewusste Hinnahme des Erfolgsrisikos bzw. pflichtwidriges Vertrauen auf das Ausbleiben des Erfolgseintritts) den Täter dazu gebracht haben, dass er seinen Tatentschluss bzgl. der die Tatbestandsverwirklichung aufrechterhält (Wessels / Beulke / Satzger, Strafrecht Allgemeiner Teil, § 7 Rn. 334). Eine eindeutige Abgrenzung zum bewusst fahrlässigen Handeln ist nur über das Kriterium des Willenselements möglich, da auch die bewusste Fahrlässigkeit die Kenntnis der Möglichkeit des Erfolgseintritts beinhaltet.
Insbesondere gegen die Möglichkeitstheorie spricht in diesem Zusammenhang, dass nach ihr der Anwendungsbereich einer vorsätzlichen Tatbegehung unangemessen weit ausgedehnt werden würde. So wären bereits leichtsinnige Verhaltensweisen, bei denen nach lebensnaher Sachverhaltsauslegung grds. davon auszugehen ist, dass der Täter die konkrete Möglichkeit des Erfolgseintritts erkannt hat, sachwidriger Weise als vorsätzliches Handeln zu qualifizieren.
Gegen die Wahrscheinlichkeitstheorie spricht hingegen insbesondere, dass ihr Abgrenzungskriterium zu unbestimmt ist. Es lässt sich kaum einheitlich ermitteln, was mehr als „möglich“, aber weniger als „überwiegend wahrscheinlich“ ist. Auch würden Fälle sachwidriger Weise nicht vom Vorsatz umfasst werden, in denen es dem Täter gerade auf den Erfolg ankommt, er diesen aber nicht für überwiegend wahrscheinlich einstuft.

Klausurtipp

Zumeist ist es nicht Prüfungsgegenstand, alle Theorien zur Abgrenzung in einer Klausur darzustellen. Ausreichend ist vielmehr die Erörterung der von der Rspr. vertretenen Einwilligungs- und Billigungstheorie. Dies gilt gerade, wenn der Sachverhalt ausdrücklich vorgibt, dass der Täter den Erfolg „billigend in Kauf genommen hat“. Einzig, wenn der Sachverhalt keine Informationen zum Vorstellungsbild des Täters enthält und / oder die verschiedenen Theorien zu einem anderen Ergebnis gelangen sollten (was höchst selten der Fall ist), kann sich eine ausführliche Streitdarstellung anbieten.
Auch wenn sie klausurtaktisch nicht ausdrücklich erwähnt werden darf, ist die „Frank'sche Formel“ äußerst hilfreich, wenn es darum geht, die nicht immer einfache Abgrenzung zwischen dem Eventualvorsatz und der bewussten Fahrlässigkeit vorzunehmen. So sagt sich ein im Hinblick auf den Erfolgseintritt mit dolus eventualis handelnder Täter: „Na, und wenn schon“, wohingegen er sich i.R.d. bewussten Fahrlässigkeit sagt: „Es wird schon gut gehen“ (vgl. Jäger, Examens-Repetitorium Strafrecht Allgemeiner Teil, Rn. 93).

Fazit zur Abgrenzung vom Eventualvorsatz und der bewussten Fahrlässigkeit

So interessant sich die Abgrenzung des Eventualvorsatzes von der bewussten Fahrlässigkeit rechtsdogmatisch auch gestaltet, sollte man sich davor hüten, in unproblematischen Fällen auf den betreffenden Meinungsstreit einzugehen. Eine solche Wissensdarlegung des Klausurbearbeiters würde seitens des Korrektors nämlich nicht mit Wohlwollen wahrgenommen werden, sondern als Zeichen einer mangelhaften Schwerpunktsetzung gewertet. In diesem Sinne ist das hiesige Thema in der Regel nur Gegenstand von strafrechtlichen Hausarbeiten im Studium.
Gerade zum Aufbau eines guten systematischen Grundverständnis im Hinblick auf den Allgemeinen Teil des Strafrechts empfiehlt es sich jedoch, die unterschiedlichen Ansichten zum Eventualvorsatz der und der bewussten Fahrlässigkeit einmal im Detail durchgearbeitet zu haben. 
So werden gerade im Rahmen des subjektiven Tatbestands häufig Fehler gemacht. Dies liegt nicht nur daran, dass der zu bearbeitende Sachverhalt oftmals nicht genau genug gelesen wird. Oftmals fehlt es schon an wichtigen Grundlagenkenntnissen des Strafrechts, da dessen Allgemeiner Teil gerne stiefmütterlich behandelt wird, um sich schnellstmöglich mit der bildhaften Materie des Besonderen Teils des Strafrechts beschäftigen zu können.
Wenn Ihr in den Strafrechtsklausuren nicht über ein „Ausreichend“ kommt oder gar durchfallt, dann seid Ihr (leider) nicht allein. Strafrechtsklausuren fallen häufig nicht besonders gut aus.
Unsere qualifizierten Dozenten der Akademie Kraatz (Grundstudium bis 1. Staatsexamen) und der Assessor Akademie (2. Examen) stehen Euch dabei gerne zur Seite, wenn Ihr Euch im Strafrecht verbessern möchtet. Ruft uns gerne für einen kostenlosen Probetermin an.

Hendrik Heinze
Geschäftsführer der Assessor Akademie Kraatz und Heinze GbR
 
 


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