BGH: Beschluss des 6. Strafsenats vom 29.11.2023 – 6 StR 191/23

03.05.2024 | von Sander Singer

BGH, Beschluss vom 29.11.2023 – 6 StR 191/23

Die Entscheidung BGH, Beschluss vom 29.11.2023– 6 StR 191/23 thematisiert einen absoluten Klassiker aus dem Bereich der Vermögensdelikte: Die Frage nach den Anforderungen an die Zueignung im Sinne der Unterschlagung gem. § 246 StGB.
Allein diese Tatsache birgt eine hohe Prüfungsrelevanz. Wenn man sich nunmehr vergegenwärtigt, dass der 6. Senat des BGH eine neue, zu der bisherigen BGH Rspr. abweichende Auffassung vertritt, wäre es fahrlässig, diese Entscheidung nicht zu lesen.

Sachverhalt

Der Stettiner Angeklagte T hatte gemeinsam mit seiner Ehefrau eine Baufirma betrieben, welche unter anderem für Energiekonzerne wie Enercon arbeitete und Baumaschinen im Wert mehrerer Millionen Euro besaß. Einen Teil dieser Maschinen, zu denen ein Tieflader gehörte, hatte die Firma im Wege einer Sicherungsübereignung finanziert.
Als das Geld knapp wurde und die Firma letztlich in Insolvenz verfiel, unterließ der Angeklagte die Herausgabe eines Tiefladers.

Wesentliche Aussagen

Der Angeklagte T wurde im Hinblick auf den Tieflader von dem Vorwurf der Unterschlagung gem. § 246 I StGB freigesprochen. Für eine Unterschlagung i.S.v. § 246 I StGB bedarf es nach neuester Rechtsprechung des 6. Senats eines tatsächlichen Zueignungserfolg.

Prüfungsschema § 246 Abs. 1 StGB

Eine Unterschlagung nach § 246 I StGB hat die folgenden Voraussetzungen:
I. Tatbestand
1. Objektiver Tatbestand
a) Tatobjekt: fremde bewegliche Sache
b) Tathandlung: sich oder einem Dritten zueignen
c) Rechtswidrigkeit der Zueignung
2. Subjektiver Tatbestand
II. Rechtswidrigkeit
III. Schuld

Objektiver Tatbestand

Problematisch war im vorliegenden Fall der objektive Tatbestand:

1. Tatobjekt: fremde bewegliche Sache

Der Tieflader steht nicht im Alleineigentum des T, vielmehr hat der T gar kein Eigentum. Der Tieflader ist als Sicherungseigentum (§§ 929, 930 BGB) an die kreditgebende Bank übereignet worden, um den geschuldeten Kredit zu sichern. Der T übte lediglich den unmittelbaren Besitz im Rahmen des Besitzmittlungsverhältnisses aus.

2. Tathandlung: Sich oder einem Dritten zueignen

Problematisch ist im vorliegenden Fall aus Sicht des BGH die Zueignung. Diese soll deshalb nicht erfolgt sein, weil T es nur unterlassen hat, den Tieflader herauszugeben. Hierin sei aber keine tatsächliche Zueignung zu sehen. Der 6. Senat hat sich im Ergebnis hier einer Mindermeinung in der Literatur angeschlossen.

Manifestationstheorie

Nach h.M. und bisheriger Rspr. erfolgt eine objektive Zueignung nach der „Manifestationstheorie“. Hiernach liegt eine Zueignung vor, wenn sich der Ent- und Aneignungswille in einem äußerlich erkennbaren Akt widerspiegelt (bzw. manifestiert). Fehlt es an einem solchen, liegt keine Zueignung vor.
Nach der weiten Manifestationstheorie genügt hierfür bereits jedes Verhalten, welches einem objektiven Beobachter bei Kenntnis des Tätervorsatzes Anlass gibt, eine Zueignung anzunehmen. Nach der überwiegend vertretenen engen Manifestationstheorie bedarf es eines Verhaltens, welches auch ohne Kenntnis des Vorsatzes des Täters auf einen generellen Zueignungswillen schließen lässt.

Änderung der Rechtsprechung: Zueignungserfolg notwendig

Die neue Rspr. des 6. Senats verlangt allerdings über die indizierte Wirkung der Handlung hinaus einen tatsächlichen Zueignungserfolg. Hierfür sprechen laut dem BGH die folgenden Argumente:
Wortlaut
Der Charakter der Norm sei, unter Betrachtung des Wortlautes, ein Erfolgsdelikt. Die alleinige Manifestation des Zueignungswillens durch die Handlung sei zwar ein gewichtiges Beweisanzeichen für den subjektiven Tatbestand. Es gäbe aber durchaus Situationen, in denen der Täter sich als Eigentümer geriert, die tatsächliche Eigentumsbeeinträchtigung aber in ihrer Qualität hinter der einer Verdrängung des Eigentümers i.S.e. objektiven Zueignung zurückbleibt.
Systematik
Auch zieht der 6. Senat des BGH den systematischen Vergleich zum Diebstahl: Im Unterschied zum kupierten Erfolg des § 242 StGB, bei dem die Zueignungsabsicht des Täters ausreicht, eine tatsächliche Zueignung aber nicht erfolgt sein muss, setze der § 246 StGB gerade einen solchen objektiven Erfolg voraus.
Gesetzgebungsgeschichte
Zudem gebiete der Wegfall der Notwendigkeit des Tatbestandsmerkmals des „Gewahrsams“ im 6. Strafrechtsreformgesetz 1998 eine restriktive Auslegung nah am Wortlaut. Würden neben der tatsächlichen Enteignung und der damit verbundenen Beeinträchtigung des Eigentums als Nutzungs- oder Ausschlagungsrecht gem. § 903 BGB nach der „Manifestationstheorie“ auch Situationen erfasst, in denen das Eigentum nicht einmal abstrakt gefährdet ist, wäre der Anwendungsbereich des Strafrechts überdehnt.
Auf den streitgegenständlichen Fall angewandt bedeutet dies, dass hier kein Zueignungserfolg vorliegt:
Der Täter hatte hier bereits unmittelbaren Besitz an der Maschine. Durch das Unterlassen der Herausgabe wurde das Eigentum des Sicherungsnehmers nicht weiter beeinträchtigt, als dies bereits vorher der Fall war.

Abweichende Rechtsprechung zu den übrigen BGH Senaten

Der 6. Strafsenat sah trotz seiner von den übrigen Strafsenaten abweichenden Rechtsprechung keinen Anlass für eine Divergenzvorlage gem. § 132 III 1 GVG.
Das liegt darin begründet, dass nach seiner Ansicht beide Ansichten zum gleichen Ergebnis führen, weil vorliegend auch kein Manifestationsakt angenommen werden könne. Das „bloße Unterlassen“ der geschuldeten Rückgabe eines sicherungsübereigneten Gegenstands sei keine vollendete Zueignung i.S.d. § 246 StGB, weil dies die Eigentümerbefugnisse nicht mehr beeinträchtigte als die im Fall der Sicherungsübereignung bereits durch das Besitzmittlungsverhältnis (Miet- oder Leasingvertrag) erfolgte Gebrauchsüberlassung. Mithin fehle es auch nach der Rspr. der übrigen Senate an dem „Generieren als Eigentümer“ im Sinne einer Manifestation des Zueignungswillens.

Fazit zur Zueignung bei § 246 Abs. 1 StGB

Nach bisheriger h.M. in Rspr. und Literatur reichte für die Unterschlagung gem. § 246 StGB die Manifestation des Zueignungswillens aus. Die aktuelle Rspr. des 6. Senats des BGH hält einen Zueignungserfolg für notwendig.
Im ersten Staatsexamen kann man an dieser Stelle beide Auffassungen gut vertreten. Im Zweifel – sofern sich noch Folgeprobleme z.B. auf Ebene der Rechtswidrigkeit oder Schuld stellen – sollte man sich klausurtaktisch entscheiden.
Das gilt auch für das zweite Staatsexamen. Obwohl man im Assessor Examen tunlichst dem BGH folgen sollte, liegt hier die Besonderheit vor, dass unterschiedliche BGH Senate abweichende Auffassungen vertreten. Mithin sind beide Auffassungen gut vertretbar.
Die Frage nach der nicht erfolgten Divergenzvorlage gem. § 132 III 1 GVG eignet sich in diesem Zusammenhang gut für eine prozessuale Zusatzfrage oder „Bonusfrage“ in der mündlichen Prüfung.
Wenn sich im Strafrecht noch nicht der gewünschte Erfolg in den Klausuren einstellt, helfen Euch unsere Dozenten der Kraatz Group, der Akademie Kraatz (erstes Semester bis erstes Examen) und Assessor Akademie (zweites Examen) sehr gerne weiter. Ruft uns an für einen kostenlosen Beratungstermin oder eine kostenlose Probestunde!

Relevante Lerninhalte

  • Unterschlagung gem. § 246 I StGB
  • Neue BGH Rechtsprechung zur Zueignung bei der Unterschlagung

Relevante Rechtsprechung

BGH, Beschluss vom 29.11.2023– 6 StR 191/23 = NJW 2024, 1050

 

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