BGH, Beschluss vom 25.10.2023 zur Freiverantwortlichkeit des Suizidentschlusses

26.06.2024 | von Sander Singer

BGH, Beschluss vom 25.10.2023 – 4 StR 81/23

Die Entscheidung BGH, Beschluss vom 25.10.2023 – 4 StR 81/23 beschäftigt sich mit einem absoluten Klausurklassiker aus dem StGB AT: Der Frage der Abgrenzung der straflosen Teilnahme an einer Selbsttötung zu einer Tötung in mittelbarer Täterschaft.

Sachverhalt

T und O sind seit 2009 befreundet. Sie lernten sich über eine Internetplattform kennen, welche mittellose, junge Männer an ältere, gut betuchte Männer vermittelt.
O, der seine sexuelle Orientierung vor seinem Umfeld verheimlichte, litt an einer schweren Depression. Er war bereit, große Geldsummen an T zu entrichten, der ihm wiederum eine spätere Lebenspartnerschaft in Aussicht stellte. Der T wurde zur wichtigsten Bezugsperson des O, der eine emotionale Abhängigkeit entwickelte. T wurde schließlich zum Alleinerben des O eingesetzt.
Nachdem beide Männer zusammengezogen waren, hatte T den O immer weiter tyrannisiert und psychisch sowie körperlich unter Druck gesetzt. Er untersagte ihm jeglichen Kontakt mit seiner Familie und machte ihm klar, dass er „zu krank“ sei, um das Haus noch zu verlassen. Gegenüber seinem eigenen Umfeld gab T an, dass O bald sterben würde. T wollte dabei dafür sorgen, dass der O sich selbst das Leben nimmt.
T rief den O am 22.02.2022 an und malträtierte ihn in einem über acht Stunden geführten Telefonat mit diversen Herabwürdigungen und, so auch sein Plan, mit dem Vorschlag, dass O sich doch das Leben nehmen solle. Er sei eine Last für T. Infolge dieser Demütigung sah O keinen anderen Ausweg, als sich selbst das Leben zu nehmen.
Nachdem das Telefonat beendet war, stach der O mehrfach in Selbsttötungsabsicht auf sich ein.
T rief den O einige Zeit später mehrfach an und ging mangels Antwort davon aus, dass sein Plan aufgegangen war. Er rief den Rettungsdienst zur Wohnung des O, um sich als aufopferungsvoller Freund darstellen zu können. O hatte sich keine lebensgefährlichen Verletzungen zugefügt und konnte vollständig geheilt werden.
Strafbarkeit des T nach § 212 StGB?

Wesentliche Aussagen

T hat sich wegen versuchten Totschlags in mittelbarer Täterschaft gem. §§ 212, 22, 25 I 2. Alt StGB strafbar gemacht.
Es liegt kein Fall des strafbefreienden Rücktritts vor.

Bedeutung für die Klausur

Das Problem des Sachverhaltes liegt in der Abgrenzung einer straflosen Anstiftung zur Selbsttötung und einer strafbaren mittelbaren Täterschaft.

Grundsatz der limitierten Akzessorietät

Die Anstiftung (§ 26 StGB), genau wie die Beihilfe (§ 27 StGB), unterliegt dem Grundsatz der „limitierten Akzessorietät“. Diese besagt, dass die Teilnahme nur dann strafbar ist, wenn eine rechtswidrige Haupttat vorliegt. Da die Selbsttötung im deutschen Strafrecht aber keine rechtswidrige Tat darstellt, liegt auch keine rechtswidrige und damit teilnahmefähige Haupttat vor (BGHSt 64, 121).

Abgrenzung zwischen strafloser Teilnahme am Suizid und Tötung in mittelbarer Täterschaft

In mittelbarer Täterschaft gem. § 25 I 2. Alt. StGB handelt, wer die vom Täterwillen getragene objektive Tatherrschaft innehat, das Geschehen also mit steuerndem Willen in den Händen hält.
Eine mittelbare Täterschaft (§ 25 I 2. Alt. StGB) lässt sich aus dem Umstand herleiten, dass der O durch T als „Werkzeug gegen sich selbst“ verwendet werden soll.
Notwendige Voraussetzung für die mittelbare Täterschaft ist aber, dass derjenige, der Hand an sich selbst anlegt (also das Werkzeug), nicht freiverantwortlich handelt. Nur wenn der Suizident aufgrund eines Wissens- oder Verantwortlichkeitsdefizits handelt, kann er als Werkzeug gegen sich selbst betrachtet werden. Die Freiverantwortlichkeit kann Fehlen in Fällen der Minderjährigkeit, intoxikations- oder krankheitsbedingten Defiziten (vgl. § 20 StGB) oder bei Zwang-, Drohung- und Täuschung.
Wie die Abgrenzung zu erfolgen hat, ist seit jeher umstritten:

Exkulpationstheorie (Verantwortungsmodell)

Die Exkulpationslösung zieht die Wertung der §§ 19, 20, 35 StGB und § 3 JGG heran. Nur wenn das Opfer als nach rechtlicher Wertung ohne Verantwortung Handelnder zu betrachten ist, sei eine mittelbare Täterschaft möglich. Innerhalb dieser Literaturmeinung ist wiederum umstritten, welche der Normen nun konkret die Kriterien der Verantwortlichkeit liefert.
Als gewichtigste Position ist die zu § 35 StGB anzuführen. Hier wird darauf abgestellt, dass dann eine eigenverantwortliche Handlung vorliegt, wenn das Opfer sich der Einflussnahme des anderen nicht in besonnener Selbstbehauptung hätte entgegenstellen können. Bleibt die Beeinflussung allerdings hinter einem solchen Niveau zurück, kommt keine mittelbare Täterschaft in Betracht. Das Opfer handelt dann freiverantwortlich.
Die Depression und emotionale Abhängigkeit des O sprechen gegen eine Verantwortlichkeit. Der O musste den Tyranneien des T nicht nach § 35 StGB standhalten, sodass keine eigenverantwortliche Handlung mehr vorgelegen hat. Nach dieser Ansicht hätte sich T also einer versuchten Tötung strafbar gemacht.

Einwilligungstheorie

Weil die Anforderungen des Verantwortungsmodell damit sehr streng sind, hat sich das Einwilligungsmodell als Gegentheorie entwickelt.
Hier wird gefragt, ob im Fall einer Fremdtötung eine wirksame Einwilligung des Opfers vorgelegen hätte. Würde eine solche fehlen, läge eine mittelbare Täterschaft vor.
Nach dieser Ansicht ist die Selbstschädigung nicht mit einer Fremdschädigung vergleichbar. Das Verantwortungsmodell, welches Selbst- und Fremdschädigung gleichlaufend behandelt, differenziert hier nicht hinreichend. Vielmehr soll gefragt werden, ob eine Einwilligung in die jeweilige Rechtsgutbeeinträchtigung möglich und gegeben wäre, wenn sie durch einen anderen am Opfer verübt worden wäre.
Da keine Einwilligung in die Tötung möglich ist, sollen für solche Fälle die Kriterien des § 216 StGB herangezogen werden. Neben natürlicher Einsichts- und Urteilsfähigkeit seien die Mangelfreiheit der Willensbildung und die Ernstlichkeit des Sterbewillens entscheidende Kriterien, wobei die konkrete Ausgestaltung des Abgrenzungsmaßstabs auch innerhalb der Gruppe von Vertretern der Einwilligungslösung unterschiedlich formuliert wird.
Gegen dieses Modell wird indessen angeführt, dass es den relativ präzisen Tatbestand des Verantwortungsmodells verlässt und zu Rechtsunsicherheiten führt. Wann eine Drohung genügt, um eine freie Entscheidung auszuschließen, kann nicht abschließend bestimmt werden (Positivabgrenzung des Einwilligungsmodells vs. Negativabgrenzung des Verantwortungsmodells).
Auf den Fall bezogen kann eine freiverantwortliche Einwilligung in die Tötung nach den Kriterien des § 216 StGB nicht angenommen werden.

Stellungnahme im Hinblick auf den Fall

Da die Positionen hier zu dem gleichen Ergebnis kommen, kann ein Streitentscheid dahinstehen. Der T hat in mittelbarer Täterschaft gehandelt.

Kein Rücktritt

Ein Rücktritt gem. § 24 I StGB kommt deshalb nicht in Betracht, weil der T hier nicht aus Erfolgsverhinderungsabsicht die Behörden informierte, sondern um sich selbst gut darzustellen und seine Spuren zu „verwischen“.

Fazit zur Freiverantwortlichkeit des Suizidentschlusses im StGB AT

Die Abgrenzung zwischen strafloser Teilnahme an einem Suizid und strafbarer Fremdtötung ist ein Evergreen in juristischen Prüfungen. Daher ist es sehr wahrscheinlich, dass der hier besprochene Beschluss des Bundesgerichtshofs sich bald im Staatsexamen wiederfindet.
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