Bundesgerichtshof, Beschluss vom 17.04.2024 – 1 StR 403/23

29.05.2024 | von Sander Singer

BGH, Beschluss vom 17.04.2024 – 1 StR 403/23

Die Entscheidung des BGH, Beschluss vom 17.04.2024 – 1 StR 403/23 beschäftigt sich mit den sehr klausurrelevanten Fragen des Versuchs und des Rücktritts. Ferner bietet sie Gelegenheit, die schwere Körperverletzung gem. § 226 StGB zu wiederholen.

Sachverhalt

T ist Facharzt für Allgemeinchirurgie. Im Rahmen einer Operation zur Behebung eines beidseitigen Leistenbruchs sterilisiert er den 17-jährigen unter Autismus leidenden P. Er ging aufgrund einer Personenverwechslung davon aus, G zu operieren, bei dem zeitgleich zur Behandlung des Leistenbruchs eine Sterilisation durchgeführt werden sollte. Unmittelbar im Anschluss an den Eingriff erkannte der Angeklagte seinen Irrtum. Er legte die Personenverwechslung noch am selben Tag gegenüber der Mutter des Geschädigten P offen und vermittelte sie am Folgetag an einen Spezialisten für Refertilisation (Wiederherstellung der Fruchtbarkeit). Zwei Wochen später konnte die Zeugungsfähigkeit des P durch eine sechsstündige Operation wiederhergestellt werden.
Einen Monat später nahm T die Sterilisation des einwilligungsunfähigen G mit Einwilligung von dessen Eltern vor. Diese waren u.a. für den Aufgabenkreis „Gesundheitsfürsorge“ als Betreuer ihres Sohnes bestellt. Die erforderliche Genehmigung des Betreuungsgerichts für die Sterilisation (§ 1905 BGB a.F., § 1830 BGB n.F.) lag nicht vor. 
Wie hat sich T hinsichtlich P strafbar gemacht?

Wesentliche Aussagen

1. Der BGH hebt das Urteil des Landgerichts, welches einen Rücktritt des T für ausgeschlossen hielt, auf.
2. Hinsichtlich des zuletzt und ohne Genehmigung durch das Familiengericht operierten G bestätigt der BGH das Urteil des Landgerichts auf schwere Körperverletzung nach § 226 I Nr. 1 Alt. 4 StGB.
 

Prüfungsschema des § 226 StGB

Das Prüfungsschema des § 226 StGB ist wie folgt aufgebaut:

I. Tatbestand

1. Objektiver Tatbestand
a) Objektiver Tatbestand des Grunddelikts, § 223 I StGB
b) Objektiver Tatbestand der Erfolgsqualifikation, § 226 I StGB
aa) Verursachung einer schweren Folge nach Abs. 1
(1) Verlust von Seh-, Sprech-, Hör oder Fortpflanzungsvermögen (Nr. 1)
(2) Verlust oder dauerhafte Gebrauchsunfähigkeit eines wichtigen Glieds (Nr. 2)
(3) Erhebliche dauernde Entstellung des Erscheinungsbilds oder Siechtum, Lähmung oder geistige Krankheit oder Behinderung
bb) Kausalität der Verletzungshandlung für die schwere Folge
cc) Tatbestandsspezifischer Gefahrzusammenhang
2. Subjektiver Tatbestand
a) Vorsatz bzgl. des Grunddelikts
b) Mindestens Fahrlässigkeit hinsichtlich der schweren Folge
c) Ggf. Abs. 2 mit Absicht oder Wissentlichkeit hinsichtlich schwerer Folge

II. Rechtswidrigkeit

III. Schuld

Das Problem des Falls

Das Kernproblem des Falls liegt in der Frage nach einem Fehlschlag des Versuchs und damit dem Ausschluss des Rücktritts. Hierfür müsste zunächst ein Versuch vorliegen.

Vorprüfung

Fraglich ist, ob T die schwere Folge des § 226 I StGB vollendet hat. Der Erfolg liegt vor, wenn er von längerer Dauer ist. Diese Langwierigkeit fehlt aber gerade. Die Refertilisation war erfolgreich, sodass die Zeugungsfähigkeit wieder hergestellt wurde. Mithin ist § 226 I StGB nicht vollendet.
Die Versuchsstrafbarkeit ergibt sich aus § 23 I StGB i.V.m. § 12 I StGB. Der Strafrahmen des § 226 I StGB liegt über einem Jahr, weshalb hier ein Verbrechen gem. § 12 I StGB vorliegt.

§§ 226 I, 22, 23 I StGB

Der Tatbestand einer versuchten schweren Körperverletzung gem. §§ 226 I, 22, 23 I StGB liegt hier unproblematisch vor:
I. Tatbestand
Der T hatte Tatentschluss. Die Verwechslung zwischen G und P stellt lediglich einen für den Vorsatz unbeachtlichen error in persona dar. Mangels einer Genehmigung des Betreuungsgerichts gem. § 1830 BGB wäre die Sterilisation des G auch rechtswidrig und der Tatbestand des § 226 I Nr. 1 Alt. 4 StGB erfüllt gewesen.
Auch setzte er durch die Durchführung der OP unmittelbar zur Begehung an.
II. Rechtswidrigkeit und Schuld
Des Weiteren handelte er rechtswidrig und schuldhaft.

Rücktritt gem. § 24 I 1 Alt. 2 StGB

Hier kommt ein Rücktritt vom beendeten Versuch gem. § 24 I 1 Alt. 2 StGB in Betracht:
1. Kein Fehlschlag
Dazu müsste der Rücktritt überhaupt noch möglich sein. Das ist dann nicht mehr der Fall, wenn ein Fehlschlag vorliegt. Ein Fehlschlag liegt vor, wenn der Täter glaubt, den Erfolg der Tat gar nicht mehr oder nicht ohne erhebliche zeitliche Zäsur oder unter Änderung der Tatmittel herbeiführen zu können. Die Betrachtung erfolgt aus subjektiver Tätersicht.
T hat im vorliegenden Fall P und G verwechselt. Fraglich ist, wie sich dieser error in persona auf den Rücktritt auswirkt.
Eine Ansicht
Nach einer Ansicht ist der Tatplan für die Frage nach einem Fehlschlag stets zu beachten. Der error in persona bei beendetem Versuch führe stets zu einem Fehlschlag. Der Begriff der „Tat“ in § 24 I StGB umfasst demnach nicht nur den abstrakten Tatbestand und dessen Erfolg, sondern bezogen auf den Rücktritt alle weiteren Motive. Widerspricht der Erfolg dem Tatplan, ist ein Rücktritt aufgrund eines Fehlschlags ausgeschlossen.
Im hiesigen Fall hat der T nach Ansicht der Vorinstanz den Tatplan, den G. zu sterilisieren. Die genaue Identifikation ist, weil die individuelle Identität durch den § 226 I StGB nicht erfasst ist, nur Teil seines subjektiven Tatplans. Indem er die falsche Person sterilisiert hat, wäre die Tat nach dieser Ansicht fehlgeschlagen.
Ansicht des BGH
Nach Ansicht des BGH ist die „Tat“ i.S.d. § 24 I StGB stets die konkrete, in dem Tatbestand umschriebene Handlung und der Erfolg, unabhängig von weiteren Motiven des Täters. Hiernach liegt kein Fehlschlag vor. Der Täter hat den Erfolg des § 226 I StGB zumindest versucht, sodass bei keinem weiteren Einschreiten der Erfolg auch nachhaltig eingetreten wäre.
Stellungnahme
Für letztere Ansicht spricht der Gedanke des Opferschutzes. Der Täter bekommt die Möglichkeit, nach dem Bemerken des error in persona die Folgen zu verhindern. Würde ihm der Rücktritt verwehrt, weil sein Tatplan die Schädigung einer anderen Person vorsah, hätte der Täter keinen Anlass mehr, den Erfolg zu verhindern.
Der Täter unterliegt hier einem error in persona, welcher nach h.M. schon für den Vorsatz unbeachtlich ist. Es wäre inkonsequent, wenn der error in persona im Rahmen des Tatbestandes als unbeachtlich angesehen wird, einen Rücktritt wegen Fehlschlags jedoch ausscheiden lässt.
2. Beendeter Versuch
Fraglich ist, ob ein unbeendeter oder beendeter Versuch vorliegt. Der Versuch ist beendet, sofern der Täter aus seiner Sicht alles Erforderliche getan hat, um den Taterfolg herbeizuführen. Das ist vorliegend der Fall.
Indem er die Eltern aufklärte und an einen Experten für Refertilisation verwies, ist er seiner entsprechenden Handlungspflicht nachgekommen und hat er sichergestellt, dass die schwere Folge des § 226 I Nr. 1 Alt. 4 StGB ausblieb. Der T tat alles Notwendige, um die Vollendung des Delikts zu verhindern.
3. Freiwilligkeit des Rücktritts
Fraglich ist, ob der Rücktritt des T auch freiwillig erfolgte. Der Rücktritt ist freiwillig, wenn er aus autonomen Motiven erfolgt. Maßgeblich ist die Tätervorstellung zum Zeitpunkt des Rücktritts. Hier hatte T erkannt, dass er den Erfolg verhindern konnte und wollte genau dies. Mithin liegt ein freiwilliger Rücktritt vor.

Fazit

Der BGH hat vorliegend einen durchaus anspruchsvoller Fall entschieden, dem eine hohe Klausurrelevanz beikommt. Hier lohnt es sich, die Falllösung noch ein zweites Mal durchzulesen und zu durchdringen.
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Relevante Lerninhalte

  • Schwere Körperverletzung gem. § 226 I StGB
  • Rücktritt gem. § 24 I 1 Alt. 2 StGB vom beendeten Versuch bei einem error in persona

Relevante Rechtsprechung

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