Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) zur Protestaktion gegen AfD-Parteitag

01.05.2024 | von Sander Singer

BVerwG, Urteil vom 27.03.2024 – 6 C 1.22

Das Versammlungsrecht ist derzeit einer der „Renner“ im 1. und 2. Examen. Bauernproteste, Klimakleber und Demos gegen rechts sind nur einige praktische Beispiele, die schnell Einzug in die Examensklausuren gefunden haben.
Dabei kann es sowohl im Rahmen der Grundrechtsklausur als auch im Gefahrenabwehrrecht abgeprüft werden.
Die vorliegende Entscheidung befasst sich mit den äußerst examensrelevanten Problemen des Umfangs des Schutzbereichs von Art. 8 GG.

Sachverhalt

Die Partei „Alternative für Deutschland“ (AfD) veranstaltete vom 30.04.2016 bis 01.05.2016 im Internationalen Congresscenter Stuttgart (ICS) einen Bundesparteitag. Im Vorfeld hatte die Polizei Stuttgart Hinweise bekommen, dass 850-1000 gewaltbereite Personen aus der linksautonomen Szene diesen Parteitag der AfD blockieren und schwere Ausschreitungen provozieren wollten.
Die Personen der Szene erschienen vermummt und vollkommen schwarz gekleidet mit insgesamt 13 Reisebussen. Sie trugen Transparente bei sich, welche sich gegen die Politik der AfD richteten. Sie errichteten Barrikaden und zündeten Pyrotechnik an. Als die Gruppe sich auf das Messegelände des Parteitages zubewegte, wurde sie durch die Polizei eingekesselt und die Personen einzeln gefesselt und abtransportiert.
Der Kläger wendete sich ursprünglich an das VG mit dem Antrag auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der Maßnahme. Dieses gab ihm Recht, die Maßnahme sei wegen der „Polizeifestigkeit von Versammlungen“ rechtswidrig gewesen. Die Berufung des Landes Baden-Württemberg zum VGH war jedoch ebenso erfolgreich: Der VGH stellte fest, dass es sich bei der streitgegenständlichen Versammlung um eine reine „Verhinderungsblockade“ gehandelt habe, welche nicht unter den Schutz des Versammlungsgesetzes fällt.

Wesentliche Aussagen des Bundesverwaltungsgerichts

1. Die Versammlung stellt keine „Verhinderungsblockade“ dar.
2. Die Versammlung war wegen ihres unfriedlichen Charakters aber bereits nicht vom Schutzbereich des Art. 8 I GG umfasst. Die Maßnahmen der Polizei waren somit rechtmäßig. 

Behandlung der „Protestaktion“ in der Klausur

Bedeutung der Versammlungsfreiheit (Art. 8 GG)

Versammlungen bieten sowohl im Rahmen der Prüfung von Grundrechten als auch im besonderen Verwaltungsrecht großes Klausurpotential. Das Versammlungsgesetz des Bundes ist inzwischen vielfach durch (eigene) Versammlungsgesetze der Länder abgelöst worden. Baden-Württemberg hat allerdings bisher kein eigenes Versammlungsgesetz erlassen, sodass gem. Art. 125a I GG das VersG Bund weiterhin gilt.

Polizeifestigkeit einer Versammlung

Der Begriff der „Polizeifestigkeit einer Versammlung“ ist zentral: Wird eine Versammlung bejaht, unterliegt diese dem Schutzbereich des Art. 8 GG.
Jedes Versammlungsgesetz stellt eine verfassungskonforme Ausgestaltung der durch Art. 8 GG garantierten Rechte und Pflichten dar. Insoweit soll der Schutz einer Versammlung garantiert werden. Die „Polizeifestigkeit“ bedeutet, dass eine Versammlung nicht primär nach den jeweiligen landesrechtlichen Vorschriften zum Polizei- und Ordnungsrecht behandelt werden darf, sondern vielmehr ein Vorrang des Versammlungsgesetzes herrscht. Dieser soll sicherstellen, dass der Schutzgehalt des Art. 8 GG realisiert wird.

Versammlungsbegriff des BVerfG

Nach dem herrschenden engen Versammlungsbegriff des BVerfG wird eine Versammlung als die örtliche Zusammenkunft mehrerer Personen zur gemeinschaftlichen, auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteten Erörterung oder Kundgebung, definiert (BVerfG, DVBl. 2001, 1351). Des Weiteren muss die Versammlung friedlich und ohne Waffen sein, damit der Schutzbereich des Art. 8 I GG eröffnet ist.
Soweit es sich – wie hier – um eine Versammlung unter freiem Himmel (das heißt ohne seitliche Zugangsbeschränkung; nicht notwendig ist, dass es kein Dach gibt) handelt, gelten dann die Schranken des Art. 8 II GG.

Verhinderungsblockade als Versammlung?

Eine „Verhinderungsblockade“ ist besonders problematisch:
Wird eine Versammlung nur abgehalten, um eine andere Versammlung zu stören oder zu verhindern, so unterfällt sie bereits nicht dem Schutzbereich des Art. 8 I GG.
Eine Versammlung ist nach dem engen Versammlungsbegriff der Rechtsprechung nur dann gegeben, wenn auch Elemente der Meinungsäußerung enthalten sind (s.o.). Im vorliegenden Fall hat dies der VGH Baden-Württemberg, 18.11.2021 – 1 S 803/19 verneint, das BVerwG in der hier dargestellten Entscheidung allerdings bejaht: Die Transparente mit Sprüchen gegen die Politik der AfD waren hierfür ausreichend.
„Verhinderungsblockaden“ können in zweierlei Form in der Klausur auftreten:
Erstens können sie zeitlich parallel zu der Veranstaltung, die sie beeinträchtigten sollen, stattfinden. Dann sind sie nach zutreffender Ansicht keine geschützte Versammlung.
Die andere Form der „Verhinderungsblockade“ ist der Veranstaltung, gegen die sie sich richten soll, zeitlich vorgelagert. Hier „proben“ die „Blockierer“, wie sie später eine möglichst effektive „Verhinderung“ der anderen Veranstaltung erreichen. Nach Auffassung des OVG Münster, Urteil vom 18.09.2012 – 5 A 1701/11, handelt es sich hierbei um eine Versammlung i.S.d. Art. 8 I GG. Die Versammlung soll auf „spektakuläre Weise“ eine Meinung in die Tat umsetzen, nämlich dass die Veranstaltung, gegen die „geprobt“ wird, abgelehnt wird. Sie unterfällt damit auch dem Schutz des Grundgesetzes und Versammlungsgesetzes. Dieses Ergebnis ergibt auch im Hinblick auf die tatsächlich nicht bestehende akute Gefahr für die andere Veranstaltung, welche ja erst in der Zukunft stattfindet, Sinn.

Demonstrative Blockade

Die „Verhinderungsblockade“ muss zur sog. „demonstrativen Blockade“ abgegrenzt werden. Während Erstere deshalb nicht vom Schutzbereich der Versammlungsfreiheit umfasst ist, weil sie der Durchsetzung von Interessen im Wege von illegitimer Gewalt und Zwang dient, ist Letztere primär auf die Meinungsäußerung gerichtet.
Unterfällt eine Versammlung dem VersG, so muss, bevor Maßnahmen gegen die Versammlung als Ganzes (und nicht nur gegen Einzelne, dem Gesamtcharakter der Versammlung widerstrebenden Individuen) nach dem Polizeigesetz ergriffen werden, die Versammlung nach dem VersG aufgelöst werden. Erfolgt dies nicht, stellt dies einen Bruch mit dem Grundsatz der „Polizeifestigkeit der Versammlung“ dar.

Anwendung auf den Fall: Polizeiliche Maßnahmen waren rechtmäßig

Da die Versammlung aus Sicht des BVerwG zwar keine pauschal unzulässige „Verhinderungsblockade“, sondern wohl eher eine „demonstrative Blockade“ dargestellt hat, müsste hier theoretisch, so wie in erster Instanz durch das VG angenommen, eine Auflösung der Versammlung den hier im Sachverhalt ausgeführten Maßnahmen (Einkesseln usw.) vorhergehen. Dies ist jedenfalls nicht erfolgt.
Jedoch hat das BVerwG aus einem anderen Grund die Versammlungseigenschaft verneint: Nach seiner Ansicht war die Versammlung in ihrem Gesamtcharakter unfriedlich, da sie insgesamt auf gewalttätige Ausschreitungen gerichtet war. Mithin unterfällt sie bereits deshalb nicht dem Schutzbereich des Art. 8 I GG.
Eine Auflösung der Versammlung war somit für weitere polizeiliche Maßnahmen nicht erforderlich.
Hinweis: Sofern sich nur einzelne Teilnehmer gewalttätig benehmen, führt dies nicht ohne Weiteres dazu, dass die gesamte Versammlung unfriedlich wäre.

Fazit zur Protestaktion gegen den AfD Bundesparteitag

Die Protestaktion gegen den AfD Bundesparteitag durfte von der Polizei rechtmäßig nach dem Polizeirecht aufgelöst werden, da aufgrund der Gewaltbereitschaft der Protestierenden keine Versammlung im Sinne von Art. 8 GG und dem VersG Bund vorlag. Eine Verhinderungsblockade konnte jedoch - entgegen der Ansicht des VGH - nicht angenommen werden.
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Relevante Lerninhalte

  • Schutzbereich von Art. 8 I GG
  • Polizeifestigkeit von Versammlungen

Relevante Rechtsprechung

BVerwG, Urteil vom 27.03.2024 – 6 C 1.22
VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 18.11.2021 – 1 S 803/19
OVG Münster, Urteil vom 18.09.2012 – 5 A 1701/11
BVerfG, DVBl 2001, 1351 = NJW 2001, 2459

 

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