BVerfG: ärztliche Zwangsmaßnahmen gem. § 1832 BGB verfassungswidrig
24.02.2025 | von Sander Singer
BVerfG, Urteil vom 26.11.2024 – 1 BvL 1/24
Gegenstand der Vorlage des BGH an das BVerfG ist die Verfassungskonformität des § 1832 I S. 1 Nr. 7 BGB (§ 1906a I S. 1 Nr. 7 BGB a.F.).Der BGH hatte über einen Fall zu entscheiden, bei dem eine Frau, die in einer Pflegeeinrichtung betreut wurde, unter paranoider Schizophrenie litt. Die Patientin musste wegen der Vorschrift des § 1832 I S. 1 Nr. 7 BGB für eine Zwangsbehandlung stets in ein Krankenhaus verbracht werden. Eine Zwangsbehandlung liegt vor, wenn diese entgegen dem Willen des Betreuten zu seinem Besseren erfolgt, weil diese medizinisch indiziert ist. Voraussetzung ist allerdings, dass der Patient für die Behandlung in ein Krankenhaus verbracht wird.
Die Regelung des § 1832 BGB hatte der Gesetzgeber erst 2016 geschaffen, um sicherzustellen, dass eine Behandlung auch gegen den Willen einer betreuten Person erfolgen kann. Hierfür wurden allerdings hohe Hürden festgelegt.
Die Frau musste für den Transport in ein Krankenhaus allerdings regelmäßig im Rettungswagen fixiert werden, was zu einer erheblichen Retraumatisierung führte. Besser für das Wohl der Patientin wäre es, wenn die Zwangsbehandlung in einem ambulanten Rahmen erfolgen könnte und hierfür die Pflegeeinrichtung nicht verlassen werden müsste.
Fraglich ist insofern, ob die hohen Anforderungen des § 1832 I S. 1 Nr. 7 BGB mit Art. 2 II S. 1 Alt. 2 GG vereinbar sind.
§ 1832 BGB (= § 1906a I S. 1 Nr. 7 BGB a.F.).
(1) Widerspricht eine Untersuchung des Gesundheitszustands, eine Heilbehandlung oder ein ärztlicher Eingriff dem natürlichen Willen des Betreuten (ärztliche Zwangsmaßnahme), so kann der Betreuer in die ärztliche Zwangsmaßnahme nur einwilligen, wenn
(…)
Nr. 7 die ärztliche Zwangsmaßnahme im Rahmen eines stationären Aufenthalts in einem Krankenhaus, in dem die gebotene medizinische Versorgung des Betreuten einschließlich einer erforderlichen Nachbehandlung sichergestellt ist, durchgeführt wird.
Wesentliche Aussagen des Bundesverfassungsgerichts
§ 1832 I S. 1 Nr. 7 BGB verstößt gegen Art. 2 II S. 1 Alt. 2 GG.Der Gesetzgeber muss eine Härtefallregelung vorsehen, die es im Ausnahmefall erlaubt, Patienten auch außerhalb eines Krankenhauses zwangsweise zu behandeln.
Vorweg: andere Ansicht gut vertretbar
Vorneweg sei angemerkt, dass auch gute Argumente für eine Verfassungskonformität der Norm sprechen. Insoweit hat sich Richter Wolff auch in einem Sondervotum dementsprechend ausgesprochen. Daher ist es in einer Klausur ebenso vertretbar, sich für die Verfassungsmäßigkeit der Norm auszusprechen.Zulässigkeit der konkreten Normenkontrolle (Richtervorlage)
Die Antragsart ist eine konkrete Normenkontrolle nach Art. 100 GG. Die Zulässigkeit einer konkreten Normenkontrolle ist wie folgt aufgebaut:
I. Zuständigkeit
Das Bundesverfassungsgericht ist gem. Art. 100 I GG, §§ 13 Nr. 11, 80 ff. BVerfGG zuständig.
II. Vorlageberechtigung
Vorlageberechtigt sind nur Gerichte.
III. Vorlagegegenstand
Erfasst sind nur formelle, nachkonstitutionelle Gesetze.
IV. Antragsgrund
Das Gericht muss das Gesetz für verfassungswidrig halten. Die Anforderungen sind also strenger als bei einer abstrakten Normenkontrolle gem. Art. 94 I Nr. 2 GG („Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit“).
V. Entscheidungserheblichkeit
Das möglicherweise verfassungswidrige Gesetz muss für die Entscheidung des vorlegenden Gerichts erheblich sein.
VI. Form
Begründung nach § 80 Abs. 2 BVerfGG.
Begründetheit der konkreten Normenkontrolle
Die Begründetheitsprüfung der konkreten Normenkontrolle ist wie bei der abstrakten Normenkontrolle aufgebaut.I. Formelle Verfassungsmäßigkeit des § 1832 BGB
Die formelle Verfassungsmäßigkeit der Norm ist gegeben, insbesondere kommt dem Bund nach Art. 74 I Nr. 1 GG die Gesetzgebungskompetenz zu. Dem in Art. 19 I S. 2 GG angelegten Zitiergebot wurde zumindest durch die Bezugnahme in dem Änderungsgesetz zum § 1906a BGB aF genügt.II. Materielle Verfassungsmäßigkeit
Das Gesetz müsste mit dem Grundgesetz vereinbar sein. Bei Bundesrecht prüft man hier die Vereinbarkeit mit den Grundrechten und sonstigen Normen des Grundgesetzes (z.B. Rechtsstaatsprinzip).Verletzung von Art. 2 II S. 1 Alt. 2 GG
Die entscheidungserhebliche Frage ist, ob Art. 2 II S. 1 Alt. 2 GG durch § 1832 I S. 1 Nr. 7 BGB verletzt wird.
1. Schutzbereich
Der Schutzbereich des Art. 2 II S. 1 Alt. 2 GG müsste eröffnet sein. Die Norm schützt die körperliche Integrität und das damit einhergehende Selbstbestimmungsrecht. Über diese körperliche Integrität kann der zurechnungsfähige Grundrechtsberechtigte im Grundsatz frei verfügen.
Ebenso begründet sich hieraus eine Schutzpflicht des Staates gegenüber nicht entscheidungsfähigen Personen, die entgegen oder ohne einen Willen einer Behandlung zugeführt werden müssen. Ausprägung dieser Schutzpflicht ist allerdings, dass ein hinreichend hohes Schutzniveau durch die gesetzliche Regelung für solche Maßnahmen erzielt wird. Der Schutzbereich ist somit eröffnet.
2. Eingriff
Diesen Zweck wollte der Gesetzgeber mit der in Rede stehenden Norm final verfolgen (klassischer Eingriffsbegriff). In den Schutzbereich wurde somit eingegriffen.
Hinweis: Hier war der Eingriff unproblematisch, so dass eine vertiefende Auseinandersetzung mit dem klassischen und modernen Eingriffsbegriff nicht notwendig war.
3. Verfassungsmäßige Rechtfertigung
Der Eingriff müsste gerechtfertigt sein. Fraglich ist insofern, ob der in § 1906a I S. 1 Nr. 7 BGB a.F. geregelte Eingriff verfassungsrechtlich gerechtfertigt ist.
Dagegen könnte sprechen, dass nach der Norm keine Möglichkeit besteht, Patienten auch ambulant zu behandeln, sie also nicht unbedingt in ein Krankenhaus zu verbringen, wenn Zwangsmaßnahmen angeordnet werden. Die Norm könnte also nicht hinreichend zum Schutz der Patienten differenzieren.
a) Gesetzesvorbehalt
Die Regelung müsste dem Grundsatz des Gesetzesvorbehaltes (vgl. Art. 2 II S. 3 GG) genügen und überdies verhältnismäßig sein.
Der Eingriff erfolgt aufgrund des § 1906a I S. 1 Nr. 7 BGB a.F. und somit „aufgrund eines Gesetzes“. Somit wird dem Gesetzesvorbehalt entsprochen.
b) Grundsatz der Verhältnismäßigkeit
Mit der beanstandeten gesetzlichen Regelung verfolgt der Gesetzgeber auch verfassungsrechtlich legitime Zwecke, zu deren Erreichung die Regelung im verfassungsrechtlichen Sinne geeignet und erforderlich ist.
Fraglich ist allerdings die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne (Angemessenheit). Die Verbringung in ein Krankenhaus ohne Möglichkeit einer Ausnahme hiervon kann im Einzelfall dem verfolgten Zweck zuwiderlaufen: Der Behandelte wird gerade durch den Transport in das Krankenhaus stärker belastet.
Das Ziel der bestmöglichen Versorgung des Patienten wird somit gerade konterkariert. Er erleidet durch den Transport in das Krankenhaus mehr Schäden, als wenn er einfach vor Ort, z.B. in der Pflegeeinrichtung, behandelt würde.
Der durch den Krankenhausvorbehalt bezweckte Schutz des Patienten steht in einem solchen Fall in keinem Verhältnis zu den Schäden, die jedenfalls durch den Transport entstehen würden.
Somit stellt sich die ausnahmslose Verbringung in ein Krankenhaus für die Zwangsbehandlung insgesamt als unverhältnismäßig dar.
Entgegen dem Senat führt Richter Wolff aus, dass es aus Art. 2 II S. 1 Alt. 2 GG als Abwehrrecht kein Anspruch gegen den Gesetzgeber auf Erlass einer angemessenen Rechtsgrundlage gibt. Vielmehr folgt aus der Abwehrfunktion, dass im Falle einer Unverhältnismäßigkeit des Eingriffs die Maßnahme als Ganze zu unterlassen ist.
Dem Gesetzgeber kommt aus einer Schutznorm nur dann eine Pflicht zur Regelung zu, wenn die „bestehenden Regelungen und Maßnahmen offensichtlich ungeeignet oder völlig unzulänglich wären, das gebotene Schutzziel zu erreichen, oder wenn sie erheblich hinter dem Schutzziel zurückblieben.“ Das ist aber wegen der durch den Gesetzgeber geschaffenen Regelung gerade nicht der Fall. Diese können vielmehr verfassungskonform angewandt werden, insbesondere in dem eine Zwangsbehandlung gänzlich unterbleibt, wenn der Transport eine unverhältnismäßige Belastung darstellt.
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Der Fall ist anspruchsvoll. Die konkrete Normenkontrolle ist vielen Studenten weniger geläufig als die abstrakte. Jedoch bestehen nur bei der Zulässigkeit ein paar Unterschiede, die sich schnell einprägen lassen. Die Begründetheit beider Verfahren ist i.E. identisch aufgebaut.Möchtest Du bei Deiner Examensvorbereitung auf Nummer sicher gehen und möglichst schon in den Klausuren die 9 Punkte überschreiten?
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- BVerfG, Urteil vom 26.11.2024 – 1 BvL 1/24 = NJW 2025, 144
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