BVerfG: (K)ein Recht auf Ausschussvorsitz für die AfD?
25.11.2025 | von Sander SingerBVerfG, Urteil vom 18.09.2024 – 2 BvF 1/20, 2 BvF 10/21
In dem Organstreitverfahren ging es darum, inwieweit Fraktionen ein Recht haben, den Vorsitzenden eines Ausschusses des Bundestages zustellen.Sachverhalt
Die Fachausschüsse im Deutschen Bundestag nehmen in großem Umfang Aufgaben des Plenums wahr. Weite Teile der fachlichen Beratungen und der Vorbereitung der Entscheidungen des Bundestages, die abschließend dem Plenum in seiner Gesamtheit obliegen, sowie der Informations-, Kontroll- und Untersuchungsaufgaben des Parlaments finden in den Ausschüssen statt. Die Zusammensetzung der Ausschüsse und die Regelung ihres Vorsitzes wird im Verhältnis der Stärke der einzelnen Fraktionen vorgenommen (§ 12 Satz 1 GO-BT). Die Fraktionen benennen die Ausschussmitglieder (§ 57 Abs. 2 Satz 1 GO-BT).Die Ausschussvorsitzenden erfüllen geschäftsleitende und repräsentative Funktionen. Ihnen obliegt die Vorbereitung, Einberufung und Leitung der Ausschusssitzungen sowie die Durchführung der Ausschussbeschlüsse (§ 59 Abs. 1 GO-BT). Die Vorsitzenden sind bei der Wahrnehmung ihrer amtlichen Aufgaben gehalten, parteipolitische Neutralität zu wahren.
§ 58 GO-BT statuiert, dass die Ausschüsse ihre Vorsitzenden und deren Stellvertreterinnen und Stellvertreter nach den Vereinbarungen im Ältestenrat (§ 6 Abs. 2 Satz 2 und 3 GO-BT) „bestimmen“. Seit der ersten Wahlperiode ist es üblich, dass sich die Fraktionen im Ältestenrat um eine Einigung bemühen, welche Fraktion welchen Ausschussvorsitz erhalten soll. Gelingt eine solche Einigung nicht, werden die Ausschussvorsitze im sogenannten Zugriffsverfahren verteilt. Die Fraktionen wählen in einer anhand der Stärkeverhältnisse im Parlament bestimmten Zugriffsreihenfolge je einen noch freien Ausschussvorsitz, sodass nach und nach alle Ausschussvorsitze vergeben werden. Die Ausschüsse bestimmen in ihren konstituierenden Sitzungen ihre Vorsitzenden. Dabei erklärt die vorschlagsberechtigte Fraktion, wen sie für das Amt des Ausschussvorsitzes vorsieht. Bis einschließlich zur 18. Wahlperiode (2013-2017) wurde dann wie folgt vorgegangen: Erhob sich gegen den Vorschlag kein Widerspruch oder ließ das Verhalten der Ausschussmitglieder auf allgemeine Zustimmung schließen, war der Vorschlag durch Akklamation bestätigt. Nur wenn Widerspruch geäußert wurde, wurde gegebenenfalls eine Wahl durchgeführt. Beides war nur vereinzelt der Fall.
In der 19. Wahlperiode kam es in mehreren Ausschüssen nach Widersprüchen durch Ausschussmitglieder anderer Fraktionen zu Wahlen zum Ausschussvorsitz. Die von der Antragstellerin benannten Kandidaten erreichten damals die erforderlichen Mehrheiten, darunter der AfD-Abgeordnete Brandner im Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (Rechtsausschuss). In den Jahren 2018 und 2019 beanstandeten Mitglieder des Rechtsausschusses das Auftreten des Vorsitzenden bei Veranstaltungen des Deutschen Anwaltvereins am 28. Februar 2018 und 15. Januar 2019. Sie beklagten, der Vorsitzende habe nicht das erforderliche Maß an parteipolitischer Zurückhaltung walten lassen und dadurch seine Aufgabe, den Ausschuss als Ganzen zu repräsentieren, verfehlt. In der zweiten Hälfte des Jahres 2019 rief der AfD-Abgeordnete Brandner durch mehrere Beiträge auf dem Kurznachrichtendienst „Twitter“ öffentliche Empörung hervor. Vor diesem Hintergrund beschloss der Rechtsausschuss am 13. November 2019 auf Antrag der Obleute der Fraktionen von CDU/CSU, SPD, FDP, DIE LINKE und Bündnis 90/Die Grünen mit 37 Ja- gegen sechs Nein-Stimmen, den Abgeordneten Brandner vom Ausschussvorsitz abzuberufen. Fortan leitete der stellvertretende Ausschussvorsitzende den Rechtsausschuss.
Auch zu Beginn der 20. Wahlperiode kam das Zugriffsverfahren bei der Verteilung der Ausschussvorsitze zur Anwendung. Dabei fielen der Antragstellerin (AfD Fraktion) die Vorsitze der Ausschüsse für Inneres und Heimat (Innenausschuss), Gesundheit (Gesundheitsausschuss) und für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (Entwicklungsausschuss) zu. In den konstituierenden Ausschusssitzungen am 15. Dezember 2021 wurden auf Antrag der Regierungsfraktionen geheime Wahlen zur Bestimmung der Vorsitzenden durchgeführt. Bei diesen Wahlen erhielt keiner der von der Antragstellerin vorgeschlagenen Kandidaten die erforderliche Mehrheit. Die Vorsitze sind seitdem vakant; die stellvertretenden Vorsitzenden leiten die Ausschüsse.
Die Antragstellerin macht jeweils geltend, von den Antragsgegnern – den genannten Ausschüssen, dem Bundestag sowie der Präsidentin und dem Präsidium des Bundestages – in ihren Rechten auf Gleichbehandlung als Fraktion, auf faire und loyale Anwendung der Geschäftsordnung und auf effektive Opposition verletzt worden zu sein.
(zit. Urteil)
Wesentliche Aussagen des BVerfG
1. Die Anträge sind zulässig, soweit sich die Antragstellerin gegen die Ausschüsse wendet und die Verletzung ihres Rechts auf Gleichbehandlung als Fraktion aus Art. 38 I S. 2 GG in Verbindung mit dem Recht auf faire und loyale Anwendung der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages durch Abwahlentscheidung beziehungsweise die Durchführung ungebundener Mehrheitswahlen geltend macht. Jedoch sind die zulässigen Anträge unbegründet.2. Im Übrigen sind die Anträge bereits unzulässig, soweit sie sich gegen den Bundestag als Gesamtorgan, gegen die Präsidentin des Bundestages und gegen das Präsidium richten. Sie sind nicht die richtigen Antragsgegner. Sie haben die angegriffenen Maßnahmen nicht zu verantworten.
Zulässigkeit des Organstreitverfahrens
Der Sachverhalt sieht einen Organstreit vor. Dieser wird im klassischen Schema abgehalten. Das wichtigste Problem in der Zulässigkeit stellt sich darin, dass die AfD-Fraktion versucht hat, die Organklage auch gegen den Bundestag, dessen Präsidentin und dessen Präsidium zu richten, die jeweils keine Verantwortung für die angegriffenen Maßnahmen haben.Hinweis: Bei der Parteifähigkeit ist in der Klausur kurz darauf einzugehen, dass Fraktionen „andere Beteiligte“ im Sinne der Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG, § 63 BVerfGG sind, da sie durch die Geschäftsordnung des Bundestages mit eigenen Rechten ausgestattet sind.
Begründetheit des Organstreitverfahrens
Im Rahmen der Begründetheit müssten sich die Rechte des Organs, der AfD-Fraktion, zumindest auch unmittelbar aus der Verfassung ergeben, damit der Antrag Aussicht auf Erfolg hat. In Betracht kommt hier eine Verletzung der Garantien aus Art. 38 I S. 2 GG, der Abgeordnetenrechte.Insbesondere ist fraglich, ob die Rechte durch die Geschäftsordnung des Bundestages derart konkretisiert werden, dass die Geschäftsordnung eine Fortsetzung der Verfassungswertungen darstellt. Eine Berufung allein auf die Geschäftsordnung, soweit sie keine Verfassungswertungen enthält, ist in isolierter Form nicht möglich.
Dass die Anträge unbegründet waren, liegt genau daran: Die Rolle des Ausschussvorsitzes ist kein politisches Amt und hat keine Auswirkung auf den Inhalt der Ausschussarbeit. Indessen repräsentiert der Ausschussvorsitzende den gesamten Ausschuss und dessen Arbeit. Er muss entsprechend neutral auftreten. Das Amt soll also gerade nicht Freiheiten aus Art. 38 I S. 2 GG verwirklichen. Wenn das Amt aber kein direkter Ausfluss der Abgeordnetenrechte aus Art. 38 I S. 2 GG ist, können entsprechende Regelungen in der GO des Bundestages auch nicht auf diese Freiheiten und Rechte zurückgeführt werden.
Hier kommt hinzu, dass die GO keine konkrete Regelung für den auslegungsbedürftigen Begriff des „Bestimmens“ der Ausschussvorsitzenden vorsieht. Vielmehr hat es sich etabliert, dass der Vorsitzende „gewählt“ wird. Die Wahl ist dabei keine Wahl im demokratischen Sinne zwischen verschiedenen Optionen. Der Kandidat wurde ja bereits vorgeschlagen. Er wird durch die „Wahl“ vielmehr nur in seinem Amt bestätigt. Sie stellt damit Gewohnheitsrecht dar.
Beruft sich die AfD-Fraktion auf eine Verletzung von Innenrecht des Bundestages, ist eine Kontrolle auf die Verletzung des Willkürverbots beschränkt.
Eine solche Willkür ist im vorliegenden Fall aber gerade nicht ersichtlich: Der Ausschussvorsitzende Brandner hatte die Neutralität seiner Tätigkeit infrage gestellt. Der Ausschuss hatte ihn daraufhin im Wege eines „actus contrarius“ in gleicher Weise abgewählt, wie er gewählt wurde. Mithin liegt ein sachlicher Grund vor und Willkür scheidet aus.
Art. 38 I 2 GG hat eine hohe Klausurrelevanz
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Relevante Lerninhalte
- Abgeordnetenrechte, Art. 38 I 2 GG
- Organstreitverfahren
Relevante Rechtsprechung
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