BVerfG zu Art. 5 I GG: Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde eines Journalisten

31.05.2024 | von Sander Singer & Dr. Robert König

„Es Reich(el)t“: BVerfG, Beschluss vom 11.04.2024 – 1 BvR 2290/23

Die Entscheidung BVerfG, Beschluss vom 11.04.2024 – 1 BvR 2290/23 befasst sich mit der Meinungsfreiheit gem. Art. 5 I GG, welche nach Ansicht des BVerfG für die Demokratie „schlechthin konstituierend“ ist (BVerfGE 7, 198, 208 – Lüth). Daher wundert es nicht, dass die Meinungsfreiheit eins der häufigsten in Klausuren und Hausarbeiten abgeprüften Grundrechte ist.

Sachverhalt

Der deutsche Journalist Julian Reichelt (R) hatte auf der Kurznachrichten-Plattform „X“ folgende kritische Äußerung über die Bundesregierung publiziert: 
„Deutschland zahlte in den letzten zwei Jahren 370 MILLIONEN EURO (!!!) Entwicklungshilfe an die TALIBAN (!!!!!!). Wir leben im Irrenhaus, in einem absoluten, kompletten, totalen, historisch einzigartigen Irrenhaus. Was ist das nur für eine Regierung?!“ Am Ende der Nachricht verlinkte er auf einen Artikel. Dieser trug die – inhaltlich zutreffende – Überschrift: „Deutschland zahlt wieder Entwicklungshilfe für Afghanistan.“ Das Titelbild des Artikels zeigte Außenministerin B und Entwicklungsministerin S im Gespräch.
Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ) hatte R bereits abgemahnt, die in Rede stehende Aussage zu widerrufen, sie stelle eine unwahre Tatsachenbehauptung dar. Nach seiner Ansicht hätte R behauptet, dass die Bundesregierung bzw. das BMZ direkt an die Taliban Entwicklungshilfe zahlen würde. Dem ist Beschwerdeführer R nicht nachgekommen. R meint, dass er durch den verlinkten Artikel hinreichend deutlich gemacht habe, dass er kritisiere, dass das Talibanregime indirekt von den ins Land geflossenen Geldern an Entwicklungshilfe profitieren könne.
Sodann hat sich das BMZ mit einem Eilantrag an das Landgericht gewandt. Dieses urteilte zunächst zugunsten des R und lehnte den Eilantrag ab. In nächster Instanz gab das Kammergericht dem Antrag jedoch statt und verurteilte R dazu, den Beitrag zu löschen. Hiergegen wehrt sich R mittels einer Verfassungsbeschwerde.
Ist die zulässige Verfassungsbeschwerde begründet?

Wesentliche Aussagen & Vorbemerkung

Das BVerfG entschied, dass R durch die letztinstanzliche Entscheidung des Kammergerichts in seinem Grundrecht aus Art. 5 I GG verletzt ist.
Bei der Konstellation handelt es sich um die klassische „Urteilsverfassungsbeschwerde“. Das heißt, die Verletzung der Rechte des Beschwerdeführers ergibt sich erst dadurch, dass das Kammergericht in letzter Instanz durch die konkrete Entscheidung die Grundrechtsverletzung herbeigeführt hat.

Begründetheit der Verfassungsbeschwerde

Obersatz und Prüfungsmaßstab

Die Verfassungsbeschwerde ist begründet, wenn R in seinen Grundrechten verletzt ist.
Das Bundesverfassungsgericht ist keine Superrevisionsinstanz und prüft im Gegensatz zu den Fachgerichten nur die Verletzung spezifischen Verfassungsrechts.
Hinweis: Bei Urteilsverfassungsbeschwerden ist es sehr wichtig, eingangs den Prüfungsmaßstab zu nennen. Das BVerfG ist nur Hüter der Verfassung und nicht des einfachen Rechts. Dennoch besteht ein Kooperationsverhältnis zu den ordentlichen Gerichten, d.h. diese bereiten den Sachverhalt vor und prüfen die Verletzung einfachen Rechts, das Bundesverfassungsgericht prüft anschließend nur das Verfassungsrecht.

War der Schutzbereich von Art. 5 I 1 Alt. 1 GG betroffen?

Es müsste der Schutzbereich der Meinungsfreiheit des R sachlich betroffen sein:
Art. 5 I GG ist ein Jedermanns-Grundrecht (Jarass in: Jarass/Pieroth GG Art. 5 Rn. 5). In seinen sachlichen Schutzbereich fallen sämtliche Meinungen, unabhängig von ihrer „Wertigkeit“ oder Gesinnung. In Abgrenzung zu Tatsachen ist eine Meinung durch Elemente „der Stellungnahme, des Dafürhaltens und des Meinens im Rahmen einer geistigen Auseinandersetzung“ geprägt (BVerfGE 33, 1).

Tatsachenbehauptungen sind hingegen Beschreibungen von Zuständen der Gegenwart oder der Vergangenheit, welche dem Beweis zugänglich sind. Sie können im Gegensatz zur Meinung also nur wahr oder unwahr sein. Tatsachen können nur unter den sachlichen Schutzbereich fallen, sofern sie die Voraussetzung für die Bildung einer Meinung oder meinungsbezogen sind. Unwahre Tatsachenbehauptungen genießen nach dem BVerfG indes keinen Schutz (BVerfG, NJW 2016, 3360).
Die Grenze des Schutzbereiches wird jedoch bei einer Schmähkritik oder Straftat überschritten. Schmähkritik liegt vor, „wenn eine Äußerung keinen nachvollziehbaren Bezug mehr zu einer sachlichen Auseinandersetzung hat und es bei ihr im Grunde nur um das grundlose Verächtlichmachen der betroffenen Person als solcher geht.“ (BVerfG, Beschluss vom 19.5.2020 – 1 BvR 2397/19).

1. Ehrschutz juristischer Personen des öffentlichen Rechts
Ausgangspunkt der Argumentation sowohl des Kammergerichts als auch des Landgerichts war die Frage nach der Beleidigungsfähigkeit des Staates.

a) Ansicht des Landgerichts
Nach Ansicht des Landgerichts sind juristische Personen des öffentlichen Rechts keine Grundrechtsträger, haben also keine persönliche Ehre. Sie genössen zwar, wie § 194 III StGB zeige, im Zusammenhang mit der Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben strafrechtlichen Ehrenschutz, der über §§ 1004 I 2, 823 II BGB in Verbindung mit §§ 185 ff. StGB zivilrechtliche Unterlassungs- und Richtigstellungsansprüche begründen könne.
Ein solcher Ehrenschutz stehe der Bundesregierung bzw. dem BMZ jedenfalls dann zu, wenn die konkrete Äußerung geeignet sei, die Behörde schwerwiegend in ihrer Funktion zu beeinträchtigen. Allerdings dürfe dieser Ehrenschutz der Behörde nicht dazu dienen, sachliche Kritik an ihrer Amtstätigkeit abzublocken oder sich gegen öffentliche Kritik abzuschirmen. Dem sei bei der erforderlichen Güter- und Interessenabwägung Rechnung zu tragen, indem Art. 5 I 2 GG eine gesteigerte Bedeutung eingeräumt werde, wenn es um das Ansehen einer Behörde und nicht um den Schutz der persönlichen Ehre gehe.

b) Ansicht des Kammergerichts
Nach Ansicht des Kammergerichts können juristische Personen des öffentlichen Rechts zivilrechtlichen Ehrenschutz gegenüber Angriffen in Anspruch nehmen, durch die ihr Ruf in der Öffentlichkeit in unzulässiger Weise herabgesetzt werde. Ein solcher Ehrenschutz könne jedenfalls dann geltend gemacht werden, wenn die konkrete Äußerung geeignet sei, die juristische Person schwerwiegend in ihrer Funktion zu beeinträchtigen. Daraus folge aber nicht, dass eine schwerwiegende Funktionsbeeinträchtigung tatsächlich eingetreten sein müsse. Ein solches Verständnis hätte zur Konsequenz, dass sich juristische Personen des öffentlichen Rechts niemals mit rechtlichen Mitteln gegen ehrverletzende Äußerungen von Dritten wenden könnten. Denn es sei faktisch ausgeschlossen, dass durch eine ehrverletzende Äußerung eines Dritten tatsächlich eine Funktionsbeeinträchtigung bei einer Behörde eintrete. Vielmehr gehe es allein darum, ob die jeweilige Äußerung geeignet sei, das Vertrauen der Bevölkerung in die Arbeit der betroffenen Behörde und deren Funktionsfähigkeit zu gefährden.

c) Ansicht des BVerfG
Das Verfassungsgericht sieht den Argumentationsansatz des Kammergerichts als grundsätzlich schlüssig an. Zwar dürfen grundsätzlich – wie sich ausweislich des § 194 III 2 StGB etwa in der Schutznorm des § 185 StGB niederschlägt – auch staatliche Einrichtungen vor verbalen Angriffen geschützt werden, da sie ohne ein Mindestmaß an gesellschaftlicher Akzeptanz ihre Funktion nicht zu erfüllen vermögen. Ihr Schutz darf indessen nicht dazu führen, staatliche Einrichtungen gegen öffentliche Kritik – unter Umständen auch in scharfer Form – abzuschirmen, die von dem Grundrecht der Meinungsfreiheit in besonderer Weise gewährleistet werden soll, und der zudem das Recht des Staates gegenübersteht, fehlerhafte Sachdarstellungen oder diskriminierende Werturteile klar und unmissverständlich zurückzuweisen. Tritt der Zweck, die öffentliche Anerkennung zu gewährleisten, die erforderlich ist, damit staatliche Einrichtungen ihre Funktion erfüllen können, in einen Konflikt mit der Meinungsfreiheit, erlangt der Einfluss von Art. 5 I 1 GG daher gesteigerte Bedeutung. Das Gewicht des für die freiheitlich-demokratische Ordnung schlechthin konstituierenden Grundrechts der Meinungsfreiheit ist dann besonders hoch zu veranschlagen, da es gerade aus dem besonderen Schutzbedürfnis der Machtkritik erwachsen ist und darin unverändert seine Bedeutung findet.

d) Zwischenergebnis
Mithin kann festgehalten werden, dass der Tweet von R prinzipiell den Ehrschutz des BMZ verletzten konnte.

2. Einordnung der Aussage R´s als Meinungsäußerung
Fraglich ist nunmehr, wie die Aussage R´s einzuordnen ist. Mit anderen Worten ist ihr Sinngehalt festzustellen.
Das Kammergericht hatte sie als unwahre Tatsachenbehauptung eingeordnet, da de facto keine Zahlungen direkt an die Taliban geleistet wurden. Vielmehr verhält es sich so, wie auch der von R verlinkte Artikel korrekt wiedergab, das Entwicklungshilfe für das Land Afghanistan gezahlt wurde.
Dem ist das BVerfG jedoch nicht gefolgt:
Es ist überzeugt, dass Bedeutung und Tragweite der Meinungsfreiheit verkannt seinen, wenn die Gerichte eine Äußerung unzutreffend als Tatsachenbehauptung, Formalbeleidigung oder Schmähkritik im verfassungsrechtlichen Sinne einstufen mit der Folge, dass sie dann nicht im selben Maß am Schutz des Grundrechts der Meinungsfreiheit teilnimmt wie Äußerungen, die als Werturteil ohne beleidigenden oder schmähenden Charakter anzusehen sind.
Das BVerfG stellt bei der Auslegung des Sinngehalts nicht nur auf den Wortlaut des betreffenden Tweets, sondern vor allem auf den Kontext ab. Es meint, dass es für einen Durchschnittsleser erkennbar war, dass R durch die Verlinkung einen inhaltlichen Bezug zwischen seinem Tweet und dem verlinkten Artikel herstellen wollte. Dies hat das Kammergericht jedoch unterlassen. Dadurch verletzt sein Urteil die sich aus Art. 5 I 1 GG ergebenen Anforderungen an die Deutung umstrittener Äußerungen.
In diesem Kontext wird deutlich, dass R nicht behauptet, dass das BMZ und die Bundesregierung Geld direkt an die Taliban zahlen, sondern dass er die Zahlung der Entwicklungshilfe kritisch sieht. Mithin liegt hier eine Meinungsäußerung.

Weitere Begründetheit

Zu der weiteren Begründetheit verliert das Bundesverfassungsgericht kaum Worte. Dies wundert nicht, da eine falsche Einordnung einer Meinungsäußerung als unwahre Tatsache (die nicht unter den Schutzbereich des Art. 5 I GG fällt) evident eine unverhältnismäßige Beschränkung der Meinungsfreiheit darstellt.
Das BVerfG stellt abschließend lediglich mit wenigen Worten fest, dass der Staat grundsätzlich auch scharfe und polemische Kritik auszuhalten hat. Das nach dem BVerfG notwendige Gebot einer Abwägung zwischen der Gefährdung der Funktionsfähigkeit staatlicher Einrichtungen durch die Äußerung einerseits und der Einbuße an Meinungsfreiheit durch die Untersagung der Äußerung andererseits, fällt hier zugunsten des R aus.
In der Klausur wären die Grundrechtsschranke (Art. 5 II GG) sowie die Schranken-Schranke des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit natürlich genauer darzustellen.
Ergebnis
Die Verfassungsbeschwerde ist begründet.

Fazit: Bundesverfassungsgericht wahrt die Meinungsfreiheit

Die Meinungsfreiheit ist immer ein heißes Eisen in Klausuren - sowohl in der Grundrechteklausur im Grundstudium als auch später im Staatsexamen. Aktuell relevant sind auch Meinungsäußerungen im Zusammenhang mit pro palästinensischen Kundgebungen. Lesenswert ist in diesem Kontext VGH Hessen, Beschluss vom 2.12.2023 – 2 B 1715/23.
Aus inhaltlicher Sicht ist die Entscheidung des BVerfG zu begrüßen: Die Meinungsfreiheit ist ein hohes Gut und die Demokratie muss sich auch mit populistischen Stimmen, wie derjenigen des ehemaligen Bild-Chefredakteurs Reichelt, auseinandersetzen. Die Entscheidung bestätigt einmal wieder die Ansicht des BVerfG, dass der Kontext einer Äußerung im Hinblick auf den Schutzbereich des Art. 5 I GG sehr sauber herauszuarbeiten ist. Das gilt umso mehr für die Klausur.
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Relevante Lerninhalte

  • Erfassung des Sinngehalts einer Äußerung bei Art. 5 I GG
  • Abgrenzung von Meinungsäußerungen und Tatsachenbehauptungen
  • Das Gebot einer Abwägung zwischen der Gefährdung der Funktionsfähigkeit staatlicher Einrichtungen durch die Äußerung einerseits und der Einbuße an Meinungsfreiheit durch die Untersagung der Äußerung andererseits

Relevante Rechtsprechung

BVerfG, Beschluss vom 11.04.2024 – 1 BvR 2290/23 = NVwZ 2024, 733
BVerfG, Beschluss vom 19.5.2020 – 1 BvR 2397/19
BVerfG, NJW 2016, 3360
BVerfGE 33, 1
BVerfGE 7, 198, 208 – Lüth
VGH Hessen, Beschluss vom 2.12.2023 – 2 B 1715/23
 

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