Deliktsrecht: Schockschaden und Hinterbliebenengeld

01.11.2024 I Sophie Goldenbogen



Erst kürzlich hat der BGH seine Rechtsprechung zu den sogenannten Schockschäden geändert. Um die Bedeutung dieser Änderung wirklich zu verstehen und dann sauber in der Klausur anwenden zu können, wollen wir uns heute das Zusammenspiel und die Unterschiede zwischen den sogenannten Schockschäden und dem Hinterbliebenengeld anschauen und dabei wichtige Grundlagen des Deliktsrechts besser verstehen.

Einführung

Ansprüche aus § 823 Abs. 1 BGB kann man grundsätzlich nur geltend machen, wenn der Anspruchssteller nachweisen kann, dass er selbst eine Rechtsgutsverletzung erlitten hat. Im deutschen Recht gilt darüber hinaus allgemein: Es sind nur eigene, materielle Schäden ersatzfähig. Das ergibt sich aus einem Umkehrschluss zu § 253 Abs. 1, 2 BGB.  Dieser Grundsatz wird nur selten durchbrochen. Eine wichtige Ausnahme im Vertragsrecht ist etwa die Drittschadensliquidation, wo ein Anspruchssteller den „Schaden eines Dritten“ liquidiert, also geltend macht.
Eine andere, wichtige Ausnahme ist auf den ersten Blick der sogenannte Schockschaden. Genau genommen handelt es sich hier aber bloß um eine mittelbare, aber immer noch dem Handelnden zurechenbare Schädigung an eigenen Rechtsgütern des Anspruchstellers. Eine wirkliche Ausnahme zu dem Grundsatz, dass man an eigenen Rechtsgütern verletzt sein muss, sind hingegen die Ansprüche aus § 844 III BGB. Beide Prüfungen wollen wir uns nun einmal anhand eines Beispielfalls ansehen.

Der Fall

Die fünfjährige T wurde von B sexuell missbraucht und anschließend getötet. T’s Vater V erleidet hierdurch eine tiefgreifende reaktive depressive Verstimmung und lässt diese bei einer Psychologin mittels einer Hypnosetherapie behandeln. Während des Verfahrens gegen B war V für 2 Monate arbeitsunfähig.
Welche Ansprüche kann V gegen B geltend machen?

Vorüberlegungen

V kann hier wegen zweier Rechtsgutsverletzungen Ansprüche geltend machen: Zum einen ist er selbst durch den sexuellen Missbrauch seiner Tochter mittelbar an seiner eigenen Gesundheit geschädigt. Zum anderen lassen sich für den V über § 844 BGB Ansprüche aus der Rechtsgutsverletzung des Lebens des Kindes ableiten. Dieser Zusammenhang wird vielfach übersehen.

Schadensersatzanspruch wegen eigener Rechtsgutsverletzung - § 823 BGB

Zunächst hat der V einen eigenen Anspruch auf Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeldes aus § 823 Abs. 1 i.V.m. § 253 Abs. 2 BGB. Studierende neigen dazu, den Prüfungspunkt „Schaden“ viel zu früh zu prüfen, irritieren dadurch den Korrektur und verlieren so wertvolle Punkte. Hier noch einmal das Prüfungsschema für §




V selbst wurde durch den sexuellen Missbrauch seiner Tochter mittelbar an seiner Gesundheit geschädigt. Dies geschah rechtswidrig und schuldhaft durch den B. Wichtig: Es ist bei der Prüfung des Anspruchs unter „Rechtsgutsverletzung“ keineswegs die Verletzung des Lebens des Kindes zu erwähnen!
Die mittelbar durch den Missbrauch verursachte, psychische Störung ist allerdings nur dann eine Rechtsgutsverletzung i.S.d. § 823 Abs. 1 BGB, wenn, wie hier, eine pathologische Fassbarkeit vorliegt. Seit einem Urteil des BGH aus dem Jahr 2022  wird übrigens nicht mehr gefordert, dass die gesundheitliche Störung über das hinausgehen muss, was infolge der schweren Verletzung naher Angehöriger in der Regel zu erwarten sei (zur ausführlichen Vertiefung und Begründung bzgl. der Rechtsprechungsänderung siehe hier) 
Für unser Thema heute sei nur kurz erwähnt, dass der BGH in dem Urteil hervorgehoben hat, dass sich vor allem auch aus der Wertung der §§ 844, 845 BGB nichts anderes ergebe.

Der Anspruch aus § 844, 845 BGB

Aber was ist die Wertung dieser Normen? Ganz einfach: Beeinträchtigungen, die allein auf die Verletzung eines Rechtsguts bei einem Dritten zurückzuführen sind, sollen eigentlich ersatzlos bleiben. Ausnahme: Die in den §§ 844, 845 genannten Fälle. Insbesondere gewährt § 844 Abs. 3 S. 1 BGB  dem Hinterbliebenen eines Getöteten ausnahmsweise einen eigenen Schadensersatzanspruch infolge der Tötung eines anderen. Eine eigene, unmittelbare Rechtsgutsverletzung ist hierfür überhaupt nicht erforderlich. Genau das ist der entscheidende Unterschied zur der eben erwähnten Haftung für Schockschäden.
§ 844 Abs. 3 S. 1 BGB stellt eine eigene Anspruchsgrundlage dar. Der Ersatzpflichtige hat dem Hinterbliebenen, der zur Zeit der Verletzung zu dem Getöteten in einem besonderen persönlichen Näheverhältnis stand, für das dem Hinterbliebenen zugefügte seelische Leid eine angemessene Entschädigung in Geld zu leisten. Hier muss insbesondere auch kein pathologischer Zustand entstanden sein. Ein besonderes persönliches Näheverhältnis wird dabei vermutet, wenn der Hinterbliebene der Ehegatte, der Lebenspartner, ein Elternteil oder ein Kind des Getöteten war.
Man prüft den § 844 Abs. 3 S. 1 BGB wie folgt:


Fazit

Wir sehen: In einer Klausur kann die Schockschaden-Problematik geschickt mit Fragen des Hinterbliebenengeldes verbunden werden. Beachtet dabei, dass der Ersatz des Schockschadens nicht neben einem Anspruch aus § 844 Abs. 3 S. 1 BGB geltend gemacht werden kann. Der Betrag, den man über § 823 Abs. 1 BGB wegen einer eigenen Rechtsgutsverletzung erhält, wird auf den Anspruch aus § 844 Abs. 3 S. 1 BGB angerechnet. Durch die Rechtsprechungsänderung ist es sehr wahrscheinlich, dass euch diese Problematik bald in Klausuren begegnen wird, möglicherweise sogar in einer Examensklausur. Wenn Ihr die neueste Rechtsprechung im Blick behalten wollt, dann abonniert gerne unseren Newsletter. Solltet Ihr euch im Deliktsrecht noch etwas unsicher fühlen, vereinbart gerne einen kostenlosen Probetermin. Unsere erfahrenen Dozenten der Kraatz Group, Akademie Kraatz und der Assessor Akademie stehen euch vom Grundstudium bis zum 2. Staatsexamen mit Rat und Tat zur Seite.

Sophie Goldenbogen
 


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