Die hypothetische Einwilligung im Strafrecht 

15.07.2024 | von Hendrik Heinze
 

 
Sowohl Studenten als auch Referendare beschäftigten sich im Strafrecht eingehend mit der tatsächlichen rechtfertigenden und der mutmaßlichen Einwilligung, nicht jedoch mit der hypothetischen. Nicht selten ist ihnen diese Rechtsfigur sogar nahezu unbekannt. Grund genug, dass wir uns in diesem Blogbeitrag einmal diesem interessanten Thema widmen.

Zivilrechtliche Ursprünge der hypothetischen Einwilligung

Allgemein ist im Hinblick auf die Rechtsfigur der hypothetischen Einwilligung zu beachten, dass sie einen zivilrechtlichen Ursprung hat. Ihr Sinn und Zweck ist es dort die Arzthaftungsrisiken einzudämmen, die durch die immer weiter ausufernden ärztlichen Aufklärungspflichten stetig zunehmen.
So enthält § 630h Abs. 2 BGB im Arzthaftungsrecht eine spezielle Beweislastregelung. Grundsätzlich hat der Behandelnde zu beweisen, dass er eine Einwilligung des Patienten gem. § 630d BGB eingeholt und ihn entsprechend den Anforderungen des § 630e BGB aufgeklärt hat. Bei einer nicht ordnungsgemäßen Aufklärung kann der Behandelnde sich darauf berufen, dass der Patient auch bei ordnungsgemäßer Aufklärung in die Maßnahme eingewilligt hätte. Mithin sind die Aufklärungsmängel in diesem Fall unbeachtlich.
Die Rechtsprechung hat die Rechtsfigur der hypothetischen Einwilligung (nicht zu verwechseln mit der „mutmaßlichen Einwilligung“) ins Strafrecht als Rechtfertigungsgrund übertragen, um dort Strafbarkeitsrisiken im medizinischen Bereich zu begrenzen, die ebenfalls durch die immer weiter ausufernden ärztlichen Aufklärungspflichten stetig zunehmen.

Unterschiede zur mutmaßlichen Einwilligung und erklärten Einwilligung

Der wesentliche konzeptionelle Unterschied zwischen der hypothetischen und der mutmaßlichen Einwilligung besteht darin, dass die mutmaßliche Einwilligung nur dann einschlägig ist, wenn eine Erklärung des Rechtsträgers tatsächlich nicht vorliegt.
Die hypothetische Einwilligung soll hingegen Fälle erfassen, in denen sich der Betroffene erklärt hatte, aber seine erklärte Einwilligung mangels ordnungsgemäßer Aufklärung nicht wirksam ist.

Ansicht der Literatur zu der hypothetischen Einwilligung im Strafrecht

In der Literatur ist die Anerkennung der Rechtsfigur generell umstritten.
Ihre Ablehnung wird v.a. damit begründet, dass die hypothetische Einwilligung nicht mit dem sich aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht gem. Art. 2 I GG i.V.m. Art. 1 I GG ableitenden Selbstbestimmungsrecht des Patienten vereinbar ist (nach dem in-dubio-pro-reo-Grundsatz gem. Art. 20 III GG i.V.m. Art. 6 II EMRK ist zugunsten des Täters von einer rechtfertigenden Einwilligung auszugehen, solange nicht das Gegenteil bewiesen werden kann).
Auch wird gegen die Wertung der Subsidiarität der mutmaßlichen Einwilligung ggü. einer diesbzgl. tatsächlichen Erklärung des Dispositionsbefugten verstoßen. Hiernach scheidet eine Rechtfertigung aus, wenn die zumutbare Möglichkeit besteht, rechtzeitig eine tatsächliche Einwilligung des Dispositionsbefugten einzuholen (vgl. Sowada NStZ 2012, 1 ff.). Auch wird kritisiert, dass durch diese Rechtsfigur die strengen Anforderungen der ärztlichen Aufklärungspflichten unterlaufen würden.
Sofern sie in der Literatur anerkannt wird, sieht man die hypothetische Einwilligung jedoch teilweise nicht als Rechtfertigungsgrund an, sondern als ein Ausschlussgrund der objektiven Zurechnung des eingetretenen tatbestandlichen Erfolgs. So fehlt es an einem Pflichtwidrigkeitszusammenhang zwischen der Tathandlung und dem eingetretenen tatbestandlichen Erfolg, wenn die Einwilligung des Patienten mit Sicherheit zu erwarten gewesen wäre (vgl. Kuhlen, JR 2004, 227).

Rechtsfolgen der hypothetischen Einwilligung nach Ansicht der Rechtsprechung

Nach dem Rechtfertigungsgrund der hypothetischen Einwilligung ist eine unterlassene bzw. nicht ordnungsgemäß ärztliche Aufklärung i.R.d. tatsächlichen rechtfertigenden Einwilligung in einen kunstgerechten ärztlichen Heileingriff unbeachtlich, wenn der Patient auch im Fall einer ordnungsgemäßen Aufklärung seine Einwilligung erteilt hätte (BGH, NStZ 2012, 205 f.; 2008, 150; 1996, 34 f.; BGH, JR 2004, 251 f.; BGH, Beschluss vom 15.10.2003 – 1 StR 300/03). Mithin entfällt die Rechtswidrigkeit des ärztlichen Eingriffs und damit auch die Strafbarkeit des Arztes.
Für die Einschätzung, ob sich die Tat mit dem hypothetischen Willen des Patienten deckt, sind im Wesentlichen, wie bei der hypothetischen Einwilligung, die individuellen Interessen des Patienten entscheidend. Hierbei ist auf das konkrete Entscheidungsergebnis des jeweiligen Patienten abzustellen und nicht darauf, ob ein ärztlicher Eingriff ohnehin hätte stattfinden müssen oder ob ein vernünftiger Patient eingewilligt hätte (BGH, NStZ-RR 2004, 16 f.). Im Gegensatz zur mutmaßlichen Einwilligung ist dieses Wahrscheinlichkeitsurteil jedoch nicht aus der Sicht eines objektiven Dritten zu dem Zeitpunkt der Tatbegehung gem. § 8 StGB zu treffen. Zeitlich ist vielmehr eine nachträgliche ex-post-Sicht maßgeblich (vgl. BGH, NStZ 2004, 442; Sowoda, NStZ 2012, 1, 5).
Zweifel sollen nach dem in-dubio-pro-reo-Grundsatz gem. Art. 20 III GG i.V.m. Art. 6 II EMRK zugunsten des Täters gehen (BGH, NStZ-RR 2004, 16 f.).
Liegen die Voraussetzungen einer hypothetischen Einwilligung nicht vor, nimmt der Arzt aber irrtümlich an, dass der Patient auch nach einer ordnungsgemäßen Aufklärung in den Eingriff eingewilligt hätte, dann unterliegt er einem Erlaubnistatbestandsirrtum (BGH, NStZ 2012, 205 f.; 1996, 34 f.).
Definition Erlaubnistatbestandsirrtum: Bei dem Erlaubnistatbestandsirrtum nimmt der Täter irrtümlich einen Sachverhalt an, bei dessen tatsächlichem Vorliegen er aufgrund eines Rechtfertigungsgrunds gerechtfertigt wäre. Nach der zutreffenden rechtsfolgenverweisenden eingeschränkten Schuldtheorie (h.M.) entfällt in diesem Fall nur der Schuldvorsatz, wohingegen der Tatbestandsvorsatz bestehen bleibt. Eine Teilnahme an der Irrtumstat ist mithin möglich. Hinsichtlich des irrenden Täters ist zu beachten, dass er gem. § 16 I 2 StGB analog ggf. wegen Fahrlässigkeit bestraft werden kann (vgl. Fischer, § 16 StGB Rn. 22d).
Nimmt der Arzt hingegen an, dass der Patient nach einer ordnungsgemäßen Aufklärung zwar nicht in den Eingriff eingewilligt hätte, er aber aufgrund der Zweckmäßigkeit den Eingriff vornehmen dürfe, liegt ein Erlaubnisirrtum (indirekter Verbotsirrtum) vor (BGH, NStZ 2012, 205 f.; BGH, NJW 2000, 885).
Definition Erlaubnisirrtum: Bei dem Erlaubnisirrtum (indirekter Verbotsirrtum) bewertet der Täter einen Sachverhalt rechtlich falsch und nimmt irrtümlich eine eigene Straflosigkeit aufgrund der irrigen Annahme des Vorliegens eines rechtlich nicht anerkannten Rechtfertigungsgrunds oder eines zu weiten Ausdehnens der Grenzen eines rechtlich anerkannten Rechtfertigungsgrunds an. Die Rechtsfolgen des Erlaubnisirrtums bestimmen sich nach denselben Grundsätzen wie diejenigen des Verbotsirrtums. In diesem Sinne ist das Unrechtsbewusstsein und damit die Schuld des Täters gem. § 17 S. 1 StGB nur dann ausgeschlossen, wenn der Erlaubnisirrtum aus der Sicht des Täters zu dem Zeitpunkt der Tatbegehung gem. § 8 StGB unvermeidbar war. War der Erlaubnisirrtum hingegen vermeidbar, bleibt es bei der Strafbarkeit des Täters. Das Gericht kann gem. § 17 S. 2 StGB die Strafe jedoch gem. § 49 I StGB auf der Strafzumessungsebene mildern (Wessels / Beulke / Satzger, Strafrecht Allgemeiner Teil, § 14 Rn. 764 ff.).

Fallbeispiel: „Der vergessliche Arzt“

Der Arzt hat eine Operation durchgeführt. Er vergisst jedoch ein Skalpell im Mageninneren des Patienten. Um den Kunstfehler nicht offenbaren zu müssen, spiegelt er dem Patienten andere Umstände vor, welche die Notwendigkeit einer zweiten Operation begründen, um auf diese Weise das Skalpell unerkannt entfernen zu können. 
Vorliegend scheidet eine tatsächliche rechtfertigende Einwilligung des Patienten hinsichtlich der zweiten Operation aus, da eine solche bei ärztlichen Eingriffen eine pflichtgemäße Aufklärung über sämtliche für die Einwilligung wesentlichen Umstände erfordert. Wird hiergegen verstoßen, ist die Einwilligung in den ärztlichen Eingriff unwirksam (Wessels / Beulke / Satzger, Strafrecht Allgemeiner Teil, § 11 Rn. 573). 
Die Rechtfertigung infolge einer mutmaßlichen Einwilligung scheidet angesichts des Grundsatzes ihrer Subsidiarität ggü. einer diesbzgl. tatsächlichen Erklärung des Dispositionsbefugten ebenfalls aus. So ist der Rechtfertigungsgrund der mutmaßlichen Einwilligung nur dann einschlägig, wenn keine zumutbare Möglichkeit besteht, rechtzeitig eine tatsächliche Einwilligung des Dispositionsbefugten einzuholen. In den Fällen einer fehlenden tatsächlichen Erklärung des Rechtsgutsinhabers muss daher stets versucht werden, eine tatsächliche Einwilligung seinerseits oder seines gesetzlichen Vertreters zu erhalten. Eine solche wirksame Einwilligung unter Beachtung der ärztlichen Aufklärungspflicht hätte durch den Arzt unschwer abgewartet bzw. eingeholt werden können.
Gegen eine Rechtfertigung infolge der hypothetischen Einwilligung spricht, dass angesichts des groben Behandlungsfehlers des Arztes nicht angenommen werden kann, dass sich der Patient ein weiteres Mal von ihm operativ hätte behandeln lassen (a. A. vertretbar).

Fazit zu der hypothetischen Einwilligung

Bei der hypothetischen Einwilligung handelt es sich (zu Recht) um eine höchst umstrittene Rechtsfigur, die aufgrund ihrer Komplexität hervorragend dazu geeignet ist, Prüfungsstoff von Klausuren und insbesondere von Hausarbeiten zu sein!
Wir hoffen, dass Dir dieser Blogbeitrag dabei helfen konnte, Dich ernsthaft mit dieser prüfungsrelevanten Materie auseinanderzusetzen.
Nicht nur im Hinblick auf die hypothetische Einwilligung und das Strafrecht, sondern auch im Zivilrecht und öffentlichen Recht stehen Dir unsere qualifizierten Dozenten der Akademie Kraatz (1. Semester bis 1. Examen) und der Assessor Akademie (2. Examen) gerne zur Seite, wenn Ihr Euch in Jura verbessern möchtet. Ruft uns gerne für einen kostenlosen Probetermin an.
 
Hendrik Heinze
Geschäftsführer der Assessor Akademie Kraatz und Heinze GbR


 

RSS Feed abonnieren