Es bietet sich zunächst einmal an, den strafrechtlichen Gewahrsamsbegriff zu definieren, bevor auf die betreffenden Gerichtsentscheidungen eingegangen wird.
Gewahrsam
Gewahrsam ist die tatsächliche Sachherrschaft, getragen von einem Herrschaftswillen, bestimmt nach der sozialen Verkehrsanschauung. In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass bereits ein genereller Herrschaftswille über Sachen in dem eigenen Herrschaftsbereich ausreichend ist. Dies gilt auch für einen potentiellen Gewahrsamswillen von Schlafenden und Bewusstlosen, welche den Gewahrsam an ihren Sachen nicht verlieren. Hinsichtlich der tatsächlichen Sachherrschaft selbst ist eine physisch-reale Einwirkungsmöglichkeit kraft tatsächlichen Könnens erforderlich. Man muss bei Bedarf also auf sie zugreifen bzw. auf sie einwirken können. Dass man die Sachen hingegen ständig bei sich trägt, ist nicht notwendig .In diesem Sinne kann man prinzipiell auch an verloren Sachen Gewahrsam haben. Hierbei wurde lange Zeit allgemein differenziert: Kennt der Verlierende den Aufenthaltsort der verlorenen Sache nicht, verliert er seinen Gewahrsam hieran. Die Sache wird dann herrenlos, es sei denn, dass sich die Sache in einem fremden Herrschaftsbereich befindet. Dann erwirbt der Inhaber dieses Herrschaftsbereich an der verlorenen Sache Gewahrsam. Weiß der Verlierende hingegen um den Belegenheitsort der verlorenen Sache, behält er an dieser zumindest Mitgewahrsam, wenn er prinzipiell auf die Sache einwirken kann. Hier spricht man auch von einer „vergessenen Sache“.
BGH, Beschlüsse vom 14.04.2020 – 5 StR 10/20 und vom 28.07.2020 – 2 StR 229/20
Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nun jedoch in einem Beschluss vom 14.04.2020 entschieden, dass bei einem Verlust von Sachen im öffentlichen Raum grds. nicht mehr zwischen verlorenen und vergessenen Sachen zu differenzieren ist. Vielmehr ist generell ein Gewahrsamsverlust des Verlierenden anzunehmen, wenn der betreffende Bereich (wie z.B. ein Park) allgemein zugänglich ist und Einwirkungsmöglichkeiten auf die Sache bietet. Diese Entscheidung wurde von dem 2. Strafsenat des Bundesrechtshofs in einem Beschluss vom 28.07.2020 zumindest vom Ergebnis her bestätigt.Bewertung der Gerichtsentscheidungen
Warum jetzt diese Entscheidungen des Bundesgerichtshofs? War es wirklich notwendig im öffentlichen Raum die über viele Jahre stattgefunden habende Differenzierung von verlorenen und vergessenen Sachen aufzuheben? Dies kann durchaus unterschiedlich bewertet werden. Ein wesentlicher Antrieb für die Strafsenate war aber wohl der Umstand, dass es im Nachhinein sehr schwierig ist nachzuweisen, ob der Eigentümer wusste, wo sich die verlorene Sache befindet, oder nicht. Von diesem Umstand hängt es jedoch in einschlägigen Fällen ab, ob ein Dritter, der eine verlorene Sache an sich nimmt, aufgrund eines Gewahrsamsbruchs wegen eines Diebstahls oder mangels eines Gewahrsamsbruchs bloß wegen einer Unterschlagung bestraft wird. In fremden Gewahrsamssphären (also nicht innerhalb des öffentlichen Raums) hatte sich dieser Streit bisher nie groß gestellt, denn hier wurde stets zumindest der Gewahrsam des Inhabers der betreffenden Gewahrsamssphäre gebrochen. Dies wäre z.B. bei verlorenen Sachen in einem Supermarkt der Fall.Ganz unabhängig davon, wie man zu den vorgenannten Entscheidungen des Bundesgerichtshofs stehen mag. Es ist wichtig, über sie Bescheid zu wissen.
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Mitgeschäftsführender Gesellschafter der Assessor Akademie Kraatz und Heinze GbR
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