Examensrelevanz pur: Die Vertrauensfrage des Bundeskanzlers nach Art. 68 GG
21.02.2025 | von Dr. Robert König
Bundeskanzler Scholz verliert Vertrauensfrage und es kommt zu vorgezogenen Neuwahlen
Am 11.12.2024 hat der Bundeskanzler Olaf Scholz die Vertrauensfrage nach Art. 68 GG gestellt und diese - wie erwartet - in der Abstimmung des Bundestags vom 16.12.2024 verloren. Anschließend hat er dann dem Bundespräsidenten Steinmeier vorgeschlagen, den Bundestag zwecks vorgezogener Neuwahlen aufzulösen. Dem ist der Bundespräsident nach Art. 68 Abs. 1 S. 2 GG nachgekommen.Die Vertrauensfrage wurde in 75 Jahren nur 6 Mal gestellt: 1972 (Willy Brand), 1982 (Helmut Schmidt), 1982 (Helmut Kohl), 2001 (Gerhard Schröder), 2005 (Gerhard Schröder) und nun 2024 (Olaf Scholz). Angesichts der Seltenheit dieses staatsorganisationsrechtlichen Instruments und der Aktualität ist es höchst wahrscheinlich, dass Art. 68 GG in einer der nächsten Examenskampagnen 2025 Prüfungsgegenstand wird - sei es in einer Staatsorga Klausur oder in der mündlichen Prüfung. Dies war nach der Vertrauensfrage 2005 nicht anders. Wenig später wurden Klausuren - sowohl im Jurastudium als auch im Examen - mit Schwerpunkt Art. 68 GG gestellt.
Daher möchten wir uns im heutigen Blogartikel die Grundlagen der Vertrauensfrage näher ansehen.
Hintergrund der Regelung in Art. 68 GG
Die absolute Mehrheit des Deutschen Bundestags wählt den Bundeskanzler zu Beginn jeder Legislaturperiode, vgl. Art. 63 Abs. 1 S. 2 GG. Das Grundgesetz nimmt in seiner Konzeption zunächst an, dass die Mehrheitsverhältnisse nach der Wahl des Bundeskanzlers grds. bis zu den Neuwahlen bestehen bleiben. Diese Aussage wird zwar nicht explizit getroffen. Den Vorschriften zur Kanzlerwahl (Art. 63 GG), dem Misstrauensvotum (Art. 67 GG) und den Regelungen zur Vertrauensfrage (Art. 68 GG) kann jedoch ein solches Leitbild entnommen werden.Wie die gegenwärtige Situation in Berlin demonstriert, ist es möglich, dass sich die Mehrheitsverhältnisse im Laufe einer Legislaturperiode verändern. Etwa, weil eine Koalition zerbricht oder einzelne Abgeordnete aus der Regierungskoalition austreten. Für solche Situationen hat das Grundgesetz die Vertrauensfrage gem. Art. 68 GG geschaffen. Der Bundeskanzler kann laut Art. 68 Abs. 1 S. 1 GG beantragen, dass der Bundestag ihm sein Vertrauen aussprechen soll. Sie ist mithin ein Mittel, mit dem der Bundeskanzler feststellen kann, ob er weiterhin über eine Mehrheit im Bundestag verfügt. Bei der Vertrauensfrage geht es damit um die Erneuerung der ursprünglichen Wahlentscheidung, welche die Abgeordneten gem. Art. 63 Abs. 1 GG für den Bundeskanzler getroffen hatten.
Arten der Vertrauensfrage
1. Abstrakte Vertrauensfrage und Verknüpfung mit Sachanträgen
Der Wortlaut des Art. 68 Abs. 1 S. 1 GG sieht zunächst eine abstrakte Vertrauensfrage vor. Jedoch ist es auch möglich, dass der Bundeskanzler die Frage mit einer konkreten Sachfrage (v.a. einem Gesetzgebungsverfahren) verknüpft.2. Echte Vertrauensfrage
Des Weiteren wird definitorisch zwischen der echten und unechten Vertrauensfrage unterschieden. Bei der echten Vertrauensfrage, will der Bundeskanzler, dass ihm das Vertrauen ausgesprochen wird und er weiterregieren kann.3. Unechte Vertrauensfrage
Bei der sog. unechten Vertrauensfrage hingegen soll der Weg für Neuwahlen freigemacht werden. Da das Grundgesetz eine stabile Regierung über die gesamte Legislaturperiode anstrebt und im Gegensatz zur Weimarer Reichsverfassung kein Auflösungsrecht eines einzelnen Verfassungsorgans beinhaltet, will das Bundesverfassungsgericht einen Missbrauch der Vertrauensfrage verhindern. Ein solcher Fall wären z.B. Neuwahlen, weil die eigene Partei derzeit in den Umfragen vorn liegt.Neben der formellen Auflösungslage (Bundestag entzieht dem Bundeskanzler das Vertrauen) fordert das BVerfG deshalb als ungeschriebene Tatbestandsvoraussetzung, dass die Handlungsfähigkeit der Bundesregierung nicht mehr besteht (sog. politisch instabile Lage). Man spricht hierbei von der materiellen Auflösungslage.
Handlungsfähigkeit heißt, dass der Bundeskanzler die Richtung der Politik bestimmen kann und dazu auch eine tragfähige Mehrheit im Bundestag hat. Dafür ist aber nicht die Ablehnung eines konkreten Gesetzgebungsverfahrens notwendig.
Diese Situation liegt derzeit vor, da nach dem Austritt der FDP aus der Ampel die Bundesregierung nun keine parlamentarische Mehrheit hat.
4. Unechte Vertrauensfrage trotz Mehrheit im Bundestag
Sofern das Tatbestandsmerkmal der fehlenden Handlungsfähigkeit vorliegt, ist nach Ansicht des BVerfG auch eine unechte Vertrauensfrage möglich, obwohl der Bundeskanzler an sich noch über eine regierungsfähige Mehrheit verfügt.Teile der Literatur sehen hierin ein erhebliches Missbrauchspotential und wollen daher die unechte Vertrauensfrage nur erlauben, sofern der Kanzler keine regierungsfähige Mehrheit im Bundestag hat.
Das BVerfG weist darauf hin, dass die Frage nach der Handlungsfähigkeit sich nicht nur anhand der formalen Mehrheitsverhältnisse im Bundestag beantworten lässt. So könne es jenseits der Abstimmungen im Bundestag zu "verdeckten Minderheitssituationen" (z.B. Intrigen usw.) kommen. Zudem sei das Missbrauchspotential der Vertrauensfrage dadurch begrenzt, dass der Bundespräsidentin erst den Bundestag auflöse. Außerdem können einzelne Abgeordnete oder Fraktionen das Bundesverfassungsgericht anrufen, um die Entscheidung des Bundespräsidenten zu überprüfen.
Vertrauen verloren: Auflösung des Bundestags durch den Bundespräsidenten
Bekommt der Bundeskanzler keine Zustimmung der Mehrheit der Abgeordneten, kann "der Bundespräsident auf Vorschlag des Bundeskanzlers innerhalb von 21 Tagen den Bundestag auflösen" (Art. 68 Abs. 1 S. 1 GG): Es gibt Neuwahlen.Hinweis: Das Recht zur Auflösung des Parlaments erlischt allerdings gem. Art. 68 Abs. 1 S. 2 GG, sobald der Bundestag mit der Mehrheit seiner Mitglieder einen neuen Bundeskanzler wählt. Dieser Fall hat jedoch keine Klausurbedeutung.
Verfassungsprozessrechtliche Verknüpfung im Staatsexamen
Anknüpfungspunkt staatsorganisationsrechtlicher Klausuren ist die Entscheidung des Bundespräsidenten über die Auflösung des Bundestags. Dabei kommen zwei Konstellationen in Betracht:- der Bundespräsident löst den Bundestag auf
- der Bundespräsident löst den Bundestag nicht auf
Organstreitverfahren nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG
Die Entscheidung des Bundespräsidenten kann mittels eines Organstreitverfahrens nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG überprüft werden. Hier ist dann mit den typischen Zulässigkeitsproblemen zu rechnen.Lesenswert ist hier das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 08.08.2005 - 2 BvE 4/05, 2 BvE 7/05, welches damals Gegenstand zahlreicher Klausuren im Jurastudium und Jura Examen war.
Im Rahmen der Begründetheit ist zu prüfen, ob durch die Entscheidung des Bundespräsidenten ein Verstoß gegen Art. 68 GG vorliegt.
Schema zur Entscheidung des Bundespräsidenten über die Vertrauensfrage
Tatbestand des Art. 68 GG1. Formelle Auflösungsvoraussetzungen
a) Antrag des Bundeskanzlers
b) Keine Mehrheit der Mitglieder des Bundestags
c) Art. 68 Abs. 2 GG: Min. 48 h zwischen Antrag und Abstimmung im Bundestag
d) Vorschlag des Bundeskanzlers innerhalb von 21 Tagen
e) Art. 68 Abs. 1 S. 2 GG: Keine Wahl eines anderen Bundeskanzlers
f) Art. 58 S.1 GG: Gegenzeichnung durch den Bundeskanzler
2. Materielle Auflösungsvoraussetzungen
Politisch instabile Lage (fehlende Handlungsfähigkeit der Bundesregierung)
3. Rechtsfolge: Ermessen des Bundespräsidenten
Hinweis: Der Bundespräsident kann den Bundestag nur dann auflösen berechtigt, falls die formellen und materiellen Auflösungsvoraussetzungen vorliegen. Jedoch steht dem Bundespräsidenten diesbzgl. nur ein beschränktes Prüfungsrecht zu (Evidenzkontrolle).
Der Wortlaut des Art. 68 Abs. 1 Satz 1 GG gibt dem Bundespräsidenten Ermessen, ob er den Bundestag auflöst oder nicht ("kann"). Die Ausübung des ihm eingeräumten Ermessens muss pflichtgemäß, d.h. ermessenfehlerfrei erfolgen.
Fazit zur Vertrauensfrage im Grundgesetz
Angesichts ihrer Aktualität und Seltenheit in der Geschichte hat die Vertrauensfrage eine hohe Examensrelevanz.Im Hinblick auf die mündliche Prüfung sollten sich Kandidaten außerdem einen Überblick über die alternativen Möglichkeiten des Grundgesetzes machen, wie der Bundeskanzler auf eine Regierungskrise reagieren kann. Die Stichworte sind hier Minderheitsregierung, Rücktritt des Kanzlers und konstruktives Misstrauensvotum.
Dr. Robert König
Mitgeschäftsführer, Jura Essentials Verlag
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