„Fahrlässige Willenserklärung“: Drei Probleme verknüpft lernen

20.11.2024 I Sophie Goldenbogen



Das Jurastudium besteht bekanntermaßen auch darin, sehr viele Meinungsstreitigkeiten kennenzulernen. Tatsächlich ist in fast jeder Examensklausur ein Klassikerproblem enthalten, zu dem es einen Streitstand gibt. Man liest dann, dass zu einem ganz speziellen Problem zwei oder mehrere Ansichten vertreten werden. Viel wichtiger als zu jedem Problem einen Streitstand auswendig zu lernen ist aber, zu verstehen, worum es geht. Dadurch spart man sich viel Zeit und kann auch besser mit unbekannten Problemen umgehen. In unserem heutigen Beitrag wollen wir uns mit einer Argumentationsfigur auseinandersetzen, die man für gleich drei Probleme anwenden kann. Sozusagen: drei in eins.

Worum geht’s?

Es geht um Situationen, in denen jemand durch eine Form von Fahrlässigkeit dafür sorgt, dass es so aussieht, als hätte er eine Willenserklärung abgegeben. Die drei Fälle, um die es heute geht, sind:

1. Das fehlende Erklärungsbewusstsein

Der bekannteste Fall ist der Trierer Weinversteigerungsfall. Hier geht es kurz gesagt darum, dass jemand bewusst handelt – zum Beispiel dem Auktionator bei einer Versteigerung zuwinkt – aber dabei nicht das Bewusstsein hat, etwas rechtlich relevantes zu erklären. Eigentlich wollte man den Auktionator nur grüßen und ist sich nicht darüber bewusst, dass es so aussieht, als würde man ein Angebot abgeben. Sowohl für den konkreten Empfänger der Handlung als auch für einen objektiven Empfänger in einer vergleichbaren Situation erscheint es aber so, dass der Handelnde eine rechtliche Erklärung abgeben will.

2. Die abhandengekommene Willenserklärung

Bei diesem Problem handelt es sich kurz gesagt um Folgendes: Eine Person hat eine Willenserklärung bereits mit Erklärungsbewusstsein formuliert, aber diese noch nicht willentlich abgegeben. Zum Beispiel hat jemand bereits die schriftliche Erklärung verfasst, in einen Brief gepackt und frankiert, sich aber noch nicht entschlossen, den Brief zur Post zu bringen. Der Brief liegt nun auf dem Schreibtisch und ein Mitbewohner oder ein Familienmitglied entscheidet sich nun aus Nettigkeit den Brief zur Post zu geben, weil diese Person denkt, dass dieser Brief zur Post aufgegeben werden soll. Auch hier stellt sich die Frage, ob der Handelnde bzw. der Erklärende aus einem etwaigen Vertrag haften muss oder nicht.


3. Die Anscheinsvollmacht

Bei der Anscheinsvollmacht stellt man fest, dass irgendeine Person im Namen einer anderen Person mehrfach Willenserklärungen abgegeben hat. Derjenige, in dessen Namen gehandelt wurde, hat die andere Person aber nicht rechtsgeschäftlich bevollmächtigt, weder ausdrücklich noch konkludent. Es wird auch keine Genehmigung des Handels ohne Vertretungsmacht erteilt. Allerdings hätte der „Vertretene“ bei Einhaltung der üblichen Sorgfalt merken müssen, was da vor sich geht.

Die Gemeinsamkeiten

In allen drei Fällen ist es jeweils umstritten, ob die Person, die den fahrlässigen Fehler gemacht hat, aus einem Vertrag haften muss oder nicht. Im Fall des fehlenden Erklärungsbewusstseins hat der Handelnde zum Beispiel fahrlässig verkannt, dass andere meinen, dass er eine rechtlich relevante Erklärung abgeben will. Im Fall der abhanden gekommenen Willenserklärung hat der Erklärende einen fahrlässigen Fehler begangen, weil er einen bereits frankierten Brief offen auf dem Tisch liegen lässt, sodass man den Eindruck gewinnen kann, dass er zur Post gegeben werden soll. Und im Fall der Anscheinsvollmacht liegt der Fehler offensichtlich darin, dass man hätte erkennen müssen, dass eine andere Person in dessen Namen eine Willenserklärung abgibt und man nichts dagegen getan hat.

Herrschende Meinung: Die Erklärungstheorie

Die herrschende Meinung sagt in allen drei Fällen, dass derjenige, der einen fahrlässigen Fehler begeht, für diesen Sorgfaltsverstoß gegenüber einem Gutgläubigen aus einer Form von Rechtsscheinhaftung haften muss. Es sei ein allgemeiner Grundsatz, dass derjenige, der zurechenbar einen Rechtsschein setzt, gegenüber einem Gutgläubigen dafür einstehen muss. Das zeigt nicht zuletzt die Wertung des § 119 BGB. Denn dort ist ja geregelt, dass jemand, der sich geirrt hat, zunächst erst einmal trotzdem eine wirksame Willenserklärung abgegeben hat, sich dann aber wieder über eine Anfechtung lösen kann. Man könnte also in allen drei Fällen zu dem Ergebnis kommen, dass grundsätzlich ein Vertrag zustande kommt, der dann aber durch die Person, die den fahrlässigen Fehler begangen hat, wieder angefochten werden kann. Der Dritte ist dann insoweit auf Ansprüche aus § 122 BGB und Ansprüchen aus vorvertraglicher Haftung (c.i.c.) beschränkt und geschützt.

Gegenansicht: Die Willenstheorie

Die Gegenansicht bildet eine Schule, die der Meinung ist, dass aus einem fahrlässigen Versehen niemals eine vertragliche Haftung begründet werden darf. Etwas hochgestochen ausgedrückt: Fahrlässigkeit sei kein hinreichender Zurechnungsgrund für eine vertragliche Haftung. Diese Ansicht pocht also auf den Gedanken der Privatautonomie. Wenn eine Person keinen Vertrag will, dann kann es dahingehend auch keine wirksame Willenserklärung geben. Diese Meinung sagt also im Fall des fehlenden Erklärungsbewusstseins, dass das Erklärungsbewusstsein konstitutiv für eine Willenserklärung sei. Bei der abhandengekommenen Willenserklärung, dass die Willenserklärung nicht willentlich abgegeben wurde, sondern bloß abhanden gekommen ist. Und die Anscheinsvollmacht hält sie schon für sich genommen für unzulässig. Neben der Privatautonomie wird insbesondere die Wertung des § 118 BGB herangeführt. Wir sehen also: Alle drei Probleme kreisen darum, ob die Situation eher über § 118 oder über § 119 BGB gelöst werden soll. Was ist die Wertung des § 118? Die Willenstheorie sagt: Hier ist doch eindeutig der Fall des fehlenden Erklärungsbewusstseins gesetzlich geregelt und zugleich angeordnet, dass ohne Erklärungsbewusstsein keine Willenserklärung vorliegt. Diese Wertung muss man auch auf die anderen drei Fälle übertragen.

Übrigens

Bei der Anscheinsvollmacht ist es umstritten, ob diese angefochten werden kann. Der BGH verneint das. Die Gegenansicht ist der Meinung, dass auch eine Anscheinsvollmacht anfechtbar ist. Zur Begründung kann man heranziehen, dass es doch keinen Unterschied machen kann, ob man eine Erklärung, die man ohne Erklärungsbewusstsein abgegeben hat, anfechten kann (so die ganz herrschende Meinung heute) oder ob man aus einer Anscheinsvollmacht für einen fahrlässigen Fehler haftet. Auch hier zahlt es sich aus, wenn man vorher verknüpft gelernt hat.

Zusammenfassung und Fazit

Wenn ihr in euren ersten Semestern Karteikarten schreibt, dann schaut immer, ob es zwischen den Problemen inhaltliche Überschneidungen und Verknüpfungen gibt. Das spart nicht nur Zeit, sondern kann bei eurer Argumentation in der Klausur auch richtig Punkte bringen. Wer nämlich die Parallelen zu ähnlichen Fällen erkennt, zeigt dem Korrektor, dass er ein weitreichendes Verständnis der Systematik des Zivilrechts hat. Heute haben wir uns das an einem Beispiel aus dem BGB AT angesehen, es gibt aber noch zahlreiche weitere.
Auch das Lernangebot der Akademie Kraatz setzt auf verknüpftes Lernen und solides Systemverständnis, um euch optimal auf die Prüfungen vorzubereiten. Neugierig geworden? Dann vereinbart doch einfach einen kostenlosen Probetermin bei einem unserer erfahrenen Dozenten. Egal ob Grundstudium, erstes oder zweites Staatsexamen, die Kraatz Group, Akademie Kraatz und die Assessor Akademie stehen euch bei der Vorbereitung mit Rat und Tat zur Seite.

Sophie Goldenbogen

RSS Feed abonnieren