Sachverhalt

Der Lkw-Fahrer L fährt mit erhöhter Geschwindigkeit und unter Missachtung des gebotenen Mindestabstands innerorts an dem betrunkenen Fahrradfahrer F vorbei. F bemerkt in seinem getrübten Zustand den Lkw erst verspätet, erschreckt sich und gerät mit seinem Fahrrad unkontrolliert ins Taumeln. Es kommt zu einem Zusammenstoß mit L, wodurch F verstirbt. Hierbei besteht die Möglichkeit, dass L auch bei Einhaltung der richtigen Geschwindigkeit und des richtigen Mindestabstands den Unfall nicht hätte vermeiden können. Ist L wegen einer fahrlässigen Tötung gem. § 222 StGB strafbar?




Lösung

Vorliegend ist der tatbestandliche Erfolg in der Gestalt des Todes eines anderen Menschen unstreitig eingetreten.

Diese Erfolgsverursachung beruht kausal auf einer Handlung des Täters. Schließlich kann sie nach der Äquivalenztheorie unter Berücksichtigung der conditio-sine-qua-non-Formel nicht hinweggedacht werden, ohne dass der eingetretene Erfolg in seiner konkreten Gestalt entfiele.

Mit dem Nichteinhalten des Mindestabstands liegt auch eine objektive Sorgfaltspflichtverletzung des L vor, wobei der eingetretene tatbestandliche Todeserfolg objektiv vorhersehbar war.

Fraglich ist jedoch, ob der Todeserfolg dem L objektiv zurechenbar ist. Dies setzt einen Pflichtwidrigkeitszusammenhang zwischen der Tathandlung und dem betreffenden Erfolg voraus. Es müsste sich also die von dem Täter geschaffene rechtlich missbilligte Gefahr in dem eingetretenen tatbestandlichen Erfolg realisieren.

Eben dies ist umstritten, wenn der eingetretene tatbestandliche Erfolg zumindest möglicherweise auch bei einem rechtmäßigen Alternativverhalten des Täters eingetreten wäre.

Nach der Risikoerhöhungslehre ist der eingetretene tatbestandliche Erfolg dem Täter bereits dann objektiv zurechenbar, wenn das Täterverhalten das Erfolgsrisiko erhöht hat. Dies ist vorliegend der Fall, da die Möglichkeit besteht, dass L bei Einhaltung der richtigen Geschwindigkeit und des richtigen Mindestabstands den Unfall hätte vermeiden können. Eine objektive Zurechenbarkeit des tatbestandlichen Erfolgs würde die Risikoerhöhungslehre hingegen dann ablehnen, wenn mit Sicherheit feststeht, dass der Erfolg auch bei einem rechtmäßigen Alternativverhalten eingetreten wäre. Denn dann hätte das Täterverhalten die Wahrscheinlichkeit des Erfolgseintritts nicht erhöht.

Nach einer anderen Ansicht ist der eingetretene tatbestandliche Erfolg dem Täter vorliegend mangels eines Pflichtwidrigkeitszusammenhangs nicht objektiv zurechenbar. Denn wenn der gleiche Erfolg auch bei einem pflichtgemäßen Alternativverhalten eingetreten wäre bzw. wenn sich dies nicht ausschließen lässt, ist die von dem Täter gesetzte Bedingung für den tatbestandlichen Erfolg ohne strafrechtliche Bedeutung.

Der zweiten Ansicht ist zu folgen. Für sie spricht, dass die Risikoerhöhungslehre den in-dubio-pro-reo-Grundsatz gem. Art. 20 III GG i.V.m. Art. 6 II EMRK unzulässig einschränkt und Erfolgsdelikte zu bloßen Gefährdungsdelikten umdeutet.

Mithin scheidet eine Strafbarkeit des L gem. § 222 StGB aus.

 

Schlusswort

Die Problematik des Erfolgseintritts bei einem rechtmäßigen Alternativverhalten ist zwar ein altbekannter Klassiker, aber deshalb nicht weniger klausurrelevant. Ganz im Gegenteil: Fehler und Ungenauigkeiten werden in diesem Zusammenhang von Korrekturen sogar besonders streng geahndet. Denn umso bekannter ein Problem ist, desto geringer ist die Fehlertoleranz, spätestens in den Examensklausuren.

Seht Euch hierzu auch unser entsprechendes YouTube-Video an:



Hendrik Heinze
Mitgeschäftsführender Gesellschafter der Assessor Akademie Kraatz und Heinze GbR


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