„Kokain & Fenstersturz“: Kenntnis allein begründet keinen Vorsatz
01.01.2025 | von Sander SingerBGH, Urteil vom 05.09.2024 – 6 StR 340/24
Der BGH äußert sich selten zu vorsatztheoretischen Fragen, weshalb dieser Fall sehr klausurrelevant ist. Der BGH unterstreicht in seinem Urteil, dass man nicht in pauschaler Art und Weise allein aufgrund der objektiven Gefahr der Tathandlung und Kenntnis dieser objektiven Gefahr seitens des Täters auf dolus eventualis schließen darf. Der dolus eventualis erfordert vielmehr immer auch eine voluntative Komponente.Der Sachverhalt der Entscheidung
Nach den Feststellungen verbrachten der Angeklagte T, der Zeuge Z, der spätere Geschädigte N und der Zeuge Ny im November 2013 die Nacht gemeinsam in der im zweiten Obergeschoss gelegenen Wohnung Nys. Die Stimmung war infolge Alkohol- und Kokainkonsum gelöst. Sowohl der Angeklagte als auch der Zeuge Z fühlten sich zu dem wegen transsexueller Neigungen als Frau auftretenden Ny hingezogen, der ihnen als attraktive Frau erschien.Als der eifersüchtige homosexuelle Geschädigte darauf hinwies, dass es sich bei seinem Freund Ny um einen Mann handele, geriet der Angeklagte in heftige Wut, ergriff den ihm körperlich unterlegenen Geschädigten an dessen Hemd, schob ihn in Richtung des geöffneten Fensters und stieß ihn heftig gegen den nicht vollständig herabgelassenen Rollladen.
Infolge der Wucht des Aufpralls brach der Rollladen einseitig aus der Führungsschiene und der Geschädigte stürzte mehr als sechs Meter hinab auf den Gehweg, wo er mit dem Kopf aufschlug. Er erlitt unter anderem schwere und konkret lebensgefährliche Kopfverletzungen. Infolgedessen kann er nur noch eingeschränkt sprechen und laufen, ist seither erwerbsunfähig und bei der Bewältigung seines Alltags dauerhaft auf fremde Hilfe angewiesen.
Der Angeklagte wollte den Geschädigten durch den Stoß aus dem Fenster verletzen, um ihn auf diese Weise für die Täuschung über das Geschlecht Nys und dessen vorhergehende Annäherungsversuche ihm – dem Angeklagten – gegenüber zu bestrafen. Ihm war aber auch bewusst, dass der Geschädigte einen Sturz aus dem zweiten Stock mit großer Wahrscheinlichkeit nicht oder nur mit schweren gesundheitlichen Beeinträchtigungen überleben würde, was er jedoch billigend in Kauf nahm.
Das Landgericht verurteilte T wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung. Hiergegen wendet sich T im Wege der Revision.
Wesentliche Aussagen des BGH
Die Revision hat Erfolg. Die Begründung des Landgerichts zur Herleitung eines Tatvorsatzes genügt nicht den Anforderungen, die an die Wertung für das Wissens- und voluntatives Element des bedingten Vorsatzes zu stellen sind.Klausurbedeutung
Der BGH unterstreicht, dass man nicht allein von der objektiven Gefahr und der betreffenden Kenntnis des Täters (Wissenselement) den Vorsatz ohne weitere Ausführungen zum voluntativen Element (Willenselement) bejahen darf.1. Definition des dolus eventualis (h.M.)
Bedingten Tötungsvorsatz hat, wer den Eintritt des Todes als mögliche, nicht ganz fernliegende Folge seines Handelns erkennt (Wissenselement) und billigend in Kauf nimmt (Willenselement).Beide Elemente müssen getrennt voneinander geprüft und durch tatsächliche Feststellungen belegt werden. Ihre Bejahung oder Verneinung kann nur auf der Grundlage einer Gesamtbetrachtung aller objektiven und subjektiven Umstände erfolgen, wobei bei der Prüfung neben der objektiven Gefährlichkeit der Tathandlung und der konkreten Angriffsweise des Täters auch seine psychische Verfassung bei Tatbegehung und seine Motivationslage einzubeziehen sind.
2. Das Wissenselement allein reicht nicht aus
Der BGH erkennt an, dass das Landgericht sowohl die Gefährlichkeit der Handlung, als auch den Grad der Wahrscheinlichkeit des Erfolgseintritts in die Gesamtschau hat einfließen lassen. Diese Umstände allein reichen aber für eine Feststellung am Einzelfall nicht aus.3. Spontane und affektive Handlungen
Insbesondere bei spontanen, unüberlegt oder in affektiver Erregung ausgeführten Handlungen kann aus der Kenntnis der Gefahr des möglichen Todeseintritts nicht ohne Berücksichtigung der sich aus der Tat und der Persönlichkeit des Täters ergebenden Besonderheiten geschlossen werden, dass das voluntative Vorsatzelement gegeben ist.4. Beim dolus eventualis liegt regelmäßig kein Tötungsmotiv vor
Dass der Täter hier aus dem Motiv handelt, das Opfer wegen der Annäherungsversuche und der vermeintlichen Täuschung zu bestrafen, ist für die Feststellung eines dolus eventualis von Bedeutung, weil ein Täter mit bedingtem Tötungsvorsatz regelmäßig kein Tötungsmotiv als solches hat. Vielmehr muss der Täter den Tod des Opfers nur billigend in Kauf nehmen, auch wenn er – wie hier – ein anderes Motiv verfolgt.5. Fazit
Dass sich in der Klausur Anlass bietet, so ausführlich auf den Vorsatz einzugehen, ist eher selten. Werden die formelartigen Sätze „billigend in Kauf genommen“ oder „auf einen guten Ausgang vertraut“ verwendet, kann man den Vorsatz unterstellen.Enthält der Sachverhalt allerdings ausführliche Darstellungen zu den individuellen Einsichten des Täters über die Motive und die individuelle Gefühlslage, bietet sich eine umfassendere Auseinandersetzung an.
Der BGH verdeutlicht einmal mehr, dass hohe Anforderungen an die Begründung des bedingten Tötungsvorsatzes gestellt werden. Gerade bei affektiven Taten oder Taten unter Alkoholeinfluss ist eine differenzierte Prüfung notwendig.
Hier muss dann dezidiert zwischen den beiden Vorsatzelementen unterschieden und beides im Einzelfall festgestellt werden. Zu beachten ist, dass der Täter für dolus eventualis kein spezifisches Tötungsmotiv braucht.
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