„Lover auf dem Kühlergrill“: Heimtücke beim Anfahren mit dem Auto?

27.11.2024 | von Sander Singer

BGH, Urteil vom 20.06.2024 – 4 StR 15/24

Die Heimtücke ist eines der wichtigsten Mordmerkmale und ihre Reichweite ist seit jeher in Rechtsprechung und Literatur umstritten. Grund genug, uns diese interessante (und klausurträchtige) Entscheidung des Bundesgerichtshofs anzusehen.

Sachverhalt

Anfang 2022 erfuhr der Angeklagte T, dass seine Mutter seinem Vater mit O fremdging. Hierin sah T die Kränkung der Familienehre und eine Herabwürdigung seines Vaters. Die Eltern stritten sich wegen der Beziehung fast täglich. Der T teilte dem Liebhaber seiner Mutter mit, dass dieser sich von seiner Familie fernhalten solle, weil es sonst „schlimm“ für ihn werde.
Am 02. Januar 2023 fuhr der T mit dem Auto seines Vaters, unter Begleitung eines Bekannten, durch die Stadt. Der Beifahrer erkannte O, der mit einer zweiten Person, H, unterwegs war. Er wies den T auf die beiden Personen hin.
Dieser hielt daraufhin an, wendete und fuhr über den Bürgersteig von hinten auf O und H zu. H hatte das Wenden bemerkt, war aber davon ausgegangen, dass der Wagen einen Parkplatz gesucht hatte. T fuhr mit durchgetretenem Gaspedal von hinten auf O und H zu. Das Aufheulen des Motors war sowohl T als auch O und H bewusst, die sich allerdings nicht umdrehten. T kollidierte mit 38km/h ungebremst mit dem O. Er beabsichtigte, dabei den O zu treffen und ihn erheblich zu verletzen. Dessen Tod sowie den Tod oder erhebliche Verletzungen der H nahm der T billigend in Kauf. O wurde rücklings auf das Fahrzeug geschleudert und prallte mit dem Kopf auf die Windschutzscheibe. Nach einer Strecke von 13 Metern stürzte er auf einen nebenstehenden PKW und kam sodann auf dem Gehweg zum Liegen. T fuhr weiter, obschon er die potenziell tödlichen Verletzungen der beiden Geschädigten wahrnahm. Der O erlitt Hautabschürfungen, blaue Flecken und einen Teilabriss des linken Ohrs sowie eine Verletzung am Zeh. Alle Verletzungen heilten vollständig aus.
Die Jugendkammer des Landgerichts hatte den T wegen gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr zur Herbeiführung eines Unglücksfalls in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung in zwei rechtlich zusammentreffenden Fällen mit Sachbeschädigung in fünf Fällen verurteilt.
Heimtücke hat es mit der Begründung abgelehnt, dass der T nicht mit dem nötigen Ausnutzungsbewusstsein gehandelt habe, weil er damit rechnen musste, dass die Geschädigten sein Fahrzeug wegen des aufheulenden Motors und des Scheinwerferlichts wahrnehmen würden. Ein Handeln aus niederen Beweggründen wurde verworfen, weil nicht auszuschließen ist, dass der T aus Angst und Verzweiflung darum, dass seine Familie auseinanderbrechen könnte, gehandelt habe.

Wesentliche Aussagen des BGH

Die Begründung des Landgerichts (LG), mit der es die Heimtücke abgelehnt hat, hält einer revisionsrechtlichen Prüfung nicht stand.

Gutachterliche Prüfung: Versuchter Mord gem. §§ 212, 211, 22, 23 I StGB

0. Vorprüfung

Der tatbestandliche Erfolg ist ausgeblieben. Die Versuchsstrafbarkeit von Mord §§ 212, 211 StGB ergibt sich aus §§ 12 I, 23 I StGB.

I. Tatbestand

1. Tatentschluss
Tatentschluss ist der Vorsatz in Bezug auf die Verwirklichung aller objektiven und subjektiven Merkmale der Tat.
Hier liegt das Problem des Falles und die Abweichung zwischen dem LG und dem BGH: Der Täter müsste Vorsatz hinsichtlich einer heimtückischen Begehungsweise haben, denn die Heimtücke ist ein objektives Tatbestandsmerkmal.
Heimtückisch tötet, wer in feindlicher Willensrichtung, die auf der Arglosigkeit des Opfers beruhende Wehrlosigkeit bewusst zur Tötung ausnutzt. Arglos ist das Opfer, wenn es sich bei Beginn des ersten mit Tötungsvorsatz geführten Angriffs keiner unmittelbaren Gefahr für Leib oder Leben ausgesetzt sieht. Wehrlos ist derjenige, der aufgrund seiner Arglosigkeit zur Verteidigung außerstande oder zumindest in der Verteidigung stark eingeschränkt ist.
Unerheblich ist dabei, ob das Opfer die Gefährlichkeit des drohenden Angriffs in voller Tragweite überblickt. Das Opfer kann auch dann arglos sein, wenn der Täter ihm offen feindselig entgegentritt, die Zeitspanne zwischen dem Erkennen der Gefahr und dem unmittelbaren Angriff aber so kurz ist, dass keine Möglichkeit bleibt, dem Angriff irgendwie zu begegnen.
Für das bewusste Ausnutzen der Arg- und Wehrlosigkeit genügt es, dass der Täter diese in ihrer Bedeutung für die hilflose Lage des Angegriffenen und die Ausführung der Tat in dem Sinne erfasst, dass er sich bewusst ist, einen durch seine Ahnungslosigkeit gegenüber einem Angriff schutzlosen Menschen zu überraschen. Das Ausnutzungsbewusstsein kann bereits aus dem objektiven Bild des Geschehens entnommen werden, wenn dessen gedankliche Erfassung durch den Täter auf der Hand liegt.
Die Erwägungen des Landgerichts stellen ausschließlich auf die Sichtweise des Opfers ab. Dieses hätte sich keines Angriffs versehen, auch wenn der Täter damit hätte rechnen müssen, dass das Opfer das Auto bemerkt. Diese Annahme steht diametral zu der o.g. Definition der Heimtücke. Es kommt eben nicht auf die Opfersicht, sondern auf die Täterperspektive an. Selbst wenn der Täter davon ausging, dass er kurz vor dem Aufprall bemerkt würde, war der Zeitraum zwischen dem Bemerktwerden und dem Aufprall so kurz, dass die Heimtücke deshalb nicht ausscheiden muss. Ausnutzungsbewusstsein lag somit vor.
2. Unmittelbares Ansetzen
Der Täter müsste unmittelbar zur Tatbegehung angesetzt haben. Das ist der Fall, wenn er subjektiv die Schwelle zum „Jetzt geht’s los“ überschreitet und aus der subjektiven Perspektive des Täters objektiv keine weiteren Schritte notwendig sind, um den tatbestandlichen Erfolg herbeizuführen.
Mit dem Beginn der Tathandlung (dem Auffahren) hatte der Täter subjektiv die Schwelle zum „Jetzt geht’s los“ überschritten und es waren objektiv keine weiteren Schritte zur Herbeiführung des Erfolges mehr notwendig. Mithin hat er unmittelbar zur Tat angesetzt und den Tatbestand eines versuchten Mordes erfüllt.

II. Rechtswidrigkeit und Schuld

T handelte auch rechtswidrig und schuldhaft.

III. Strafe / Strafzumessung

Wegen der langen Freiheitsstrafe, die mit der Verurteilung wegen Mordes einhergeht, ist eine verhältnismäßige Bestrafung geboten.
Restriktionsansätze der Literatur
Die von der Literatur im Fall von Heimtücke angeführte Tatbestandslösung, nach der ein besonderer Vertrauensbruch bzw. die Typenkorrektur, nach der eine besondere Verwerflichkeit wie bei einem niedrigen Beweggrund vorliegen muss, wird von der Rechtsprechung abgelehnt.
Rechtsfolgenlösung des BGH
Vielmehr wird eine Einschränkung auf Rechtsfolgenseite über § 49 I Nr. 1 StGB vorgenommen. Mithin hat das Gericht im Einzelfall – nach Würdigung aller Umstände – die Möglichkeit, die Strafe zu mildern.
Hinweis: Wohlgemerkt wurde die Sache im vorliegenden Fall wegen der Rechtsfehler an die Vorinstanz zurückverwiesen. Der BGH hat keine abschließende Entscheidung gefällt, weshalb er sich nicht mit § 49 StGB auseinandergesetzt hat.

Einordnung des Urteils für das Jurastudium & Examen

Die Entscheidung kann ohne Weiteres Grundlage einer Examensklausur im 1. oder 2. Staatsexamen werden. Straftaten mit Bezug zum Straßenverkehr sind Dauerrenner in beiden Examina und die Auslegung des Mordmerkmals der Heimtücke ist ohnehin ein Klausurklassiker.
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Relevante Lerninhalte

  • Prüfung eines versuchten Mordes
  • Mordmerkmal der Heimtücke
  • Restriktive Auslegung der Heimtücke bzw. Rechtsfolgenlösung des BGH

Relevante Rechtsprechung

  • BGH, Urteil vom 20.06.2024 – 4 StR 15/24


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