LSG Niedersachsen-Bremen: Sozialleistungsbetrug und Zurechnung bei der Vollmacht

10.05.2024 | von Sander Singer

LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 27.02.2024 - L 11 AS 330/22

Sozialrecht?! Das hat doch keine Examensrelevanz. Richtig! Aber die hier besprochene Entscheidung behandelt mit der Frage nach der Zurechnung von Verschulden bei der Stellvertretung grundlegende Probleme aus dem BGB AT. Sie ist einmal mehr ein treffendes Beispiel für das sog. Schachtelprinzip des BGB. Der allgemeine Teil des BGB ist nicht nur für die BGB AT Klausur im Grundstudium relevant, sondern hat eine wichtige Bedeutung in sehr vielen Bereichen des Zivilrechts. Immer dort, wo Willenserklärungen von Bedeutung sind, musst Du auf das entsprechende Wissen aus dem BGB AT zurückgreifen.

Sachverhalt

Die Klägerin bezog seit 2005 Grundsicherung in einer Bedarfsgemeinschaft mit ihrem damaligen Lebensgefährten und der gemeinsamen minderjährigen Tochter. Der Lebenspartner kümmerte sich um alle Anträge der Bedarfsgemeinschaft beim Jobcenter und den damit zusammenhängenden Schriftverkehr. 
Die Klägerin fand nach Ende ihrer Elternzeit im Jahr 2008 wieder eine Anstellung, sodass sie die Grundsicherung nicht mehr benötigte. Sie beauftragte ihren Lebensgefährten sodann mit der Abmeldung der Leistung beim Jobcenter. Dieser hatte aber andere Pläne. Er meldete die Arbeit nicht an, sodass die Frau weiterhin Leistungen bekam. Dies fiel der Klägerin laut eigener Aussage erst nach drei Monaten auf, woraufhin sie ihren Lebensgefährten auf die fortwährenden Zahlungen ansprach. Der Lebensgefährte leitete daraufhin die Zahlungen auf ein anderes Konto um, damit die Klägerin nichts von weiteren Zahlungen mitbekommt.
Erst Jahre später erfuhr das Jobcenter von den Vorkommnissen. Der Lebenspartner wurde aufgrund der erschlichenen Grundsicherungsleistungen inzwischen wegen Sozialbetruges strafrechtlich verurteilt. Das Jobcenter hatte die Klägerin sodann aufgefordert, ca. 11.000 Euro zurückzuzahlen. Jetzt klagt sie dagegen, dass sie das Geld zurückzahlen muss.
Das Jobcenter ist der Ansicht, dass die ehemalige Grundsicherungsempfängerin sich nicht auf Vertrauensschutz gem. § 45 II SGB X berufen könne. 
Hinweis: Der Fall wurde leicht abgewandelt. Im Originalfall klagte die Mutter zusammen mit ihrer Tochter.

Wesentliche Aussagen des LSG Niedersachsen-Bremen

Die Klage wurde abgewiesen. Die Klägerin könne sich nicht auf den Vertrauensschutz aus § 45 II SGB X berufen. Die fehlende Mitteilung des leistungsrelevanten Einkommens muss sich die Mutter gem. §§ 164, 166 I, 278 BGB zurechnen lassen. Das Verhalten des Vaters wird zulasten der Tochter über §§ 164 I, 166 I, 278 BGB i.V.m. § 1629 BGB zugerechnet.
Der Umstand, dass der Lebensgefährte bereits in der Vergangenheit als bevollmächtigter Vertreter agiert hat und dieser Anschein im Außenverhältnis nicht beseitigt wurde, begründet eine Anscheinsvollmacht.

Bedeutung für die Klausur

Die Fragen nach der Zurechnung von Pflichtverletzung und Verschulden bei einer Stellvertretung sowie die Anscheinsvollmacht sind ein häufiges Prüfungsthema.

§ 278 BGB: Zurechnung des Verhaltens des Erfüllungsgehilfen

Ausgangspunkt der Frage nach der Zurechnung der Pflichtverletzung (unterlassene Mitteilung des Beschäftigungsverhältnisses) und des Verschuldens (Vorsatz bzgl. der fehlenden Mitteilung) ist hier § 278 BGB. Dieser ist bei der Verletzung einer verhaltensbezogenen Pflicht schon im Rahmen des Prüfungspunkts „Pflichtverletzung“ (und nicht erst beim Vertretenmüssen) relevant, da § 278 BGB das gesamte schuldhafte Verhalten eines Erfüllungsgehilfen zurechnet (Lorenz, JuS 2007, 983, 985).
Erfüllungsgehilfe im Sinne des § 278 BGB ist, wer nach den tatsächlichen Verhältnissen mit dem Willen des Schuldners bei der Erfüllung einer Verbindlichkeit als seine Hilfsperson tätig wird (BGH, NJW 2007, 428). Dies wäre hier jedenfalls dann der Fall, wenn der Lebenspartner der Klägerin von ihr bevollmächtigt gewesen wäre, die Kommunikation mit dem Jobcenter durchzuführen.

Die Vollmacht

Die nicht durch Gesetz, sondern durch ein Rechtsgeschäft geschaffene Vertretungsmacht heißt Vollmacht, § 166 II 1 BGB. Zur Erteilung der Vollmacht bedarf es gem. § 167 I BGB einer Erklärung gegenüber dem Vertreter selbst oder gegenüber dem Dritten, der mit dem Bevollmächtigten in Kontakt kommen soll. Ersteres nennt sich Innenvollmacht, letzteres Außenvollmacht.
Im Fall hat die Klägerin die Vollmacht ihrem Lebensgefährten gegenüber als Innenvollmacht erteilt. 

Widerruf der Vollmacht durch die Klägerin

Problematisch war allerdings das Erlöschen der Vollmacht.
Zunächst hatte die Klägerin ihren Lebensgefährten gebeten, ihre Beschäftigung beim Jobcenter zu melden, sodass hier eine Innenvollmacht vorlag (s.o.). Dann hatte sie, als weitere Zahlungen folgten, festgestellt, dass dies nicht erfolgt war. Spätestens hier wäre nach Ansicht des Gerichts der Zeitpunkt gewesen, an dem die Klägerin selbst hätte tätig werden und die Vollmacht hätte widerrufen müssen, § 168 S. 2, S. 3 BGB. Dieser Widerruf wurde allerdings weder dem Lebensgefährten noch dem Jobcenter gegenüber erklärt.
Nachdem die Klägerin ihren Lebensgefährten ein letztes Mal aufgefordert hatte, die Beschäftigung zu melden, und der Lebenspartner ab diesem Zeitpunkt die Zahlungen umleitete, wurde die Vertretungsmacht aus Sicht des Gerichts zumindest konkludent gegenüber dem Lebensgefährten widerrufen. 
Mangels tatsächlicher Vertretungsmacht ab diesem Zeitpunkt finden die Grundsätze der Anscheinsvollmacht Anwendung.
Hinweis: Bei einer Außenvollmacht, d.h. wenn die Klägerin dem Jobcenter gegenüber erklärt hätte, dass ihr Lebensgefährte von ihr bevollmächtigt ist, darf man nicht vorschnell auf die Anscheins- oder Duldungsvollmacht abstellen. Vielmehr regelt § 170 BGB diesen Fall ausdrücklich.

Grundsatz der Anscheins- und Duldungsvollmacht

Fraglich ist also, ob eine Anscheinsvollmacht vorlag. Eine Anscheinsvollmacht liegt vor, wenn der Vertretene bei pflichtgemäßer Sorgfalt hätte erkennen können, dass ein anderer als Vertreter für ihn auftritt und dies hätte verhindern können. Die Voraussetzungen der Anscheinsvollmacht sind folgende:
1. Anwendbarkeit
Die Grundsätze der Rechtsscheinvollmachten sollen nur auf geschäftsfähige Vertretene angewendet werden. Hier erfolgt eine Priorisierung des Minderjährigenschutzes gegenüber dem durch die Rechtsscheinvollmachten bewirkten Verkehrsschutz.
Die Frau war volljährig, sodass eine Anscheinsvollmacht möglich ist.
Hinweis: In der Rolle des Stellvertreters kann hingegen auch ein beschränkt Geschäftsfähiger auftreten, vgl. § 165 BGB.
2. Mehrfaches Auftreten als Vertreter von gewisser Dauer
Der Lebensgefährte führte den gesamten Schriftverkehr mit dem Jobcenter. Ein Auftreten von gewisser Dauer liegt vor.
Hinweis: Umstritten ist, ob ähnlich wie bei der Duldungsvollmacht ein einmaliges Auftreten ausreicht, um den Rechtsschein zu erzeugen. Nach h.M. muss der Vertreter mehrfach auftreten. Nach einer m.M. reicht es aus, wenn der Vertreter nur einmal auftritt, sofern der Kontakt mit dem Dritten einen starken Rechtsschein schafft. 
3. Der Vertretene hat zumindest fahrlässige Kenntnis von der Vertretung
Sie hatte hier sogar positive Kenntnis vom Handeln ihres Lebensgefährten.
4. Der Vertretene hat die Möglichkeit, den Rechtsschein zu beseitigen
Den Rechtsschein hätte sie ohne Weiteres durch Meldung der Angelegenheit beim Jobcenter beseitigen können.
5. Gutgläubigkeit des Dritten, § 173 BGB analog
Das Jobcenter war auch gutgläubig.
Mithin lag hier eine Anscheinsvollmacht vor und die Klägerin muss sich das Handeln des Vertreters zurechnen lassen.

§ 45 II 3 Nr. 1 SGB X

Zwar liegt das Problem des Falls im BGB AT, ohne einen kleinen Ausflug in das Sozialrecht wird aber nicht deutlich, woraus sich die Haftung der Klägerin ergibt. § 45 II 3 Nr. 1 SGB X stellt fest, dass kein Vertrauensschutz nach Abs. 2 S. 1 besteht, wenn der Verwaltungsakt (hier: Bewilligungsbescheid über Grundsicherung) aufgrund von Täuschung, Drohung oder Bestechung erlangt worden ist. Zwar hat die Klägerin selbst nicht über ihre neue Beschäftigung getäuscht. Ihr Lebenspartner hingegen hat dem Jobcenter bewusst keine Angaben gemacht. Seine Täuschung könnte ihr über § 278 BGB zugerechnet werden. 
Nach § 278 S. 1 Alt. 2 BGB haftet derjenige, der sich eines Erfüllungsgehilfen bedient, für dessen Verschulden wie für eigenes Verschulden. Die Klägerin muss sich also das Verhalten des Lebensgefährten als Täuschung im Sinne des § 45 II 3 Nr. 1 SGB X zurechnen lassen. 
Erfüllungsgehilfe ist, wer mit Wissen und Wollen im Pflichtenkreis eines Schuldners zur Erfüllung von dessen Verbindlichkeit tätig wird.
Hinweis: In einem Fall wie dem vorliegenden wird der Sachverhalt der Klausur oder Hausarbeit ausdrücklich auf die (unbekannte) Norm des § 45 II 3 Nr. 1 SGB X hinweisen.

Tochter: § 278 BGB i.V.m. § 1629 BGB

Für die minderjährige Tochter stellt sich die Lage noch etwas prekärer dar: Sie kann der Haftungszurechnung aus § 278 BGB bereits deshalb nicht entkommen, weil sie durch den Vater über § 1629 BGB gesetzlich vertreten wird. 

Fazit zum Urteil des LSG Niedersachsen-Bremen

Ein tolles Urteil für jeden Klausurersteller! Die hier thematisierten Fragen zur Stellvertretung können in fast jeder Zivilrechtsklausur im Examen gestellt werden. Und die ganz anspruchsvollen Prüfer können § 45 SGB X unter dem Klausursachverhalt abdrucken, um den Umgang mit einer unbekannten Norm abzuprüfen.

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Relevante Lerninhalte

  • Stellvertretung gem. §§ 164 ff. BGB
  • Anscheinsvollmacht

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