Angelehnt an den BGH-Fall vom 09.05.2019 -  4 StR 605/18 könnte Ihre StPO-Zusatzfrage in der Strafrechtsklausur lauten:

Das Landgericht hatte den Angeklagten mit Urteil vom 15. Juni 2016 wegen räuberischen Diebstahls, versuchter Körperverletzung sowie wegen Diebstahls in zwei Fällen zu der Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und drei Monaten verurteilt und ihn vom Vorwurf der Vergewaltigung zum Nachteil der Nebenklägerin freigesprochen.
Auf Revision der Nebenklägerin hob der Senat den Teilfreispruch mit den Feststellungen auf und verwies die Sache insoweit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landgericht zurück. Das Landgericht hat den Angeklagten nunmehr der Vergewaltigung schuldig gesprochen, gegen ihn eine Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren verhängt und seine Unterbringung in der Sicherungsverwahrung angeordnet.
Hiergegen richtet sich die auf eine Verfahrensbeanstandung und die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten.

Der Verfahrensrüge, mit welcher der Angeklagte unter dem Gesichtspunkt des § 338 Nr. 6 StPO beanstandet, die Schlussvorträge seien in nicht öffentlicher Sitzung erfolgt, ohne dass der Ausschluss der Öffentlichkeit durch einen Beschluss der Strafkammer angeordnet worden sei, liegt folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde:
Am ersten Tag der gegen den Angeklagten wegen des Verdachts der Vergewaltigung zum Nachteil der Nebenklägerin geführten Hauptverhandlung beschloss die Strafkammer auf Antrag des Nebenklägervertreters, die Öffentlichkeit während der Dauer der Vernehmung der Nebenklägerin gemäß § 171b Abs. 1 GVG auszuschließen. Nach Verkündung des näher begründeten Gerichtsbeschlusses in öffentlicher Sitzung wurde die Nebenklägerin unter Ausschluss der Öffentlichkeit als Zeugin vernommen. Am vierten Hauptverhandlungstag nach Schluss der Beweisaufnahme erfolgten die Schlussvorträge der Verfahrensbeteiligten einschließlich des letzten Wortes des Angeklagten wiederum in nicht öffentlicher Sitzung, ohne dass zuvor ein Beschluss der Strafkammer über den Ausschluss der Öffentlichkeit während der Schlussvorträge gefasst worden war.
Ist die Revision des Angeklagten begründet?

(Quelle: JurionRS 2019, 18827)

 

War das Rechtsmittel erfolgreich?

Das Rechtsmittel hatte keinen Erfolg. Die Nachprüfung des angefochtenen Urteils aufgrund der Revisionsrechtfertigung hat keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben.

Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts vom 14. Juni 2018 wurde verworfen. (Tenor)

 

BGH-Urteil:

Indem das Landgericht es versäumt hat, den nach § 171b Abs.3 Satz 2 GVG gesetzlich vorgeschriebenen Ausschluss der Öffentlichkeit während der Schlussvorträge durch einen Gerichtsbeschluss anzuordnen, hat es zwar die Verfahrensbestimmung des  §174 Abs. 1 Satz 2 GVG verletzt. Dieser Verfahrensverstoß unterfällt aber nicht der Vorschrift des § 338 Nr. 6 StPO und vermag auch nach § 337 StPO die Revision nicht zu begründen. (BGH, 09.05.2019 - 4 StR 605/18 Rn. 7)

 

Wie hat der BGH dies begründet? (BGH, 09.05.2019 - 4 StR 605/18 Rn. 8 - 15)

Grundsatz: Beschluss erforderlich für den Ausschluss der Öffentlichkeit von den Schlussvortträgen
Nach § 171b Abs. 3 Satz 2 GVG ist in Verfahren, die eine Katalogtat des § 171b Abs. 2 GVG zum Gegenstand haben, die Öffentlichkeit für die Schlussvorträge auszuschließen, wenn die Verhandlung unter den Voraussetzungen des § 171b Abs. 1 oder 2 GVG oder des § 172 Nr. 4 GVG ganz oder zum Teil nicht öffentlich stattgefunden hat.

Sinn und Zweck dieses Grundsatzes:
Durch die Regelung soll verhindert werden, dass Umstände, für deren Erörterung die Öffentlichkeit während des bisherigen Verlaufs der Hauptverhandlung ausgeschlossen war, bei den Schlussvorträgen gleichwohl öffentlich zur Sprache kommen.

Schlussvorträge:
Im Rahmen der Schlussvorträge wird eine unbefangene Auseinandersetzung mit dem gesamten Verfahrensstoff ermöglicht. Der für die Schlussvorträge vorgesehene Ausschluss der Öffentlichkeit dient der Absicherung dieser Geheimhaltungsinteressen, die schon während des Hauptverfahrens durch einen Öffentlichkeitsausschluss geschützt wurden.

Verstoß gegen § 174 Abs. 1 Satz 2 GVG (Beschlusserfordernis für Öffentlichkeitsausschluss)?
Ein solcher lag hier vor. Der Verstoß gegen das Beschlusserfordernis des § 174 Abs. 1 Satz 2 GVG stellt aber laut BGH bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 171b Abs. 3 Satz 2 GVG in einschränkender Auslegung des § 338 Nr. 6 StPO keinen absoluten Revisionsgrund dar.

Argumente für einschränkenden Auslegung des § 338 Nr 6 StPO
Der Bundesgerichtshof hält eine restriktive Auslegung des § 338 Nr. 6 StPO für geboten, wenn bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 171b Abs. 3 Satz 2 GVG die Schlussvorträge entsprechend der zwingenden gesetzlichen Vorgabe in nicht öffentlicher Sitzung gehalten wurden, ohne dass der Öffentlichkeitsausschluss zuvor durch einen Gerichtsbeschluss angeordnet worden war. Hierfür sprechen die verfahrensmäßigen Besonderheiten, die sich aus der gesetzlichen Ausgestaltung des Ausschließungsgrundes des § 171b Abs. 3 Satz 2 GVG ergeben.

Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs werden von § 338 Nr. 6 StPO als Verletzung von Vorschriften über die Öffentlichkeit eigentlich nicht nur materielle Beschränkungen der Öffentlichkeit, sondern auch Verstöße gegen Verfahrensbestimmungen erfasst, welche das Ausschließungsverfahren regeln. § 338 Nr. 6 StPO soll dadurch der Bedeutung der Öffentlichkeitsmaxime Rechnung tragen, welches eine der wesentlichen Strukturprinzipien des Strafprozesses ist. So sollen Verletzungen der Vorschriften zur Öffentlichkeit des Verfahrens eigentlich zur Aufhebung des Urteils führen, ohne dass es einer Beruhensprüfung bedarf. Hiervon weicht der BGH nun ab:

Argument 1: Zwingende Rechtsfolge
Der § 171b Abs. 3 Satz 2 GVG schreibt den Ausschluss der Öffentlichkeit für die Schlussvorträge in Verfahren, die eine Katalogtat des § 171b Abs. 2 GVG zum Gegenstand haben, zwingend vor. Auf der Rechtsfolgenseite besteht weder zum Ob eines Ausschlusses noch zu dessen Umfang ein Entscheidungsspielraum des Gerichts.

Argument 2: Klare Tatbestandsvoraussetzungen
Voraussetzung für den Ausschluss ist allein der in einem früheren Stadium der Hauptverhandlung erfolgte Ausschluss der Öffentlichkeit nach den Vorschriften des § 171b Abs. 1 oder 2 GVG bzw. § 172 Nr. 4 GVG für mindestens einen Teil der Verhandlung. War dies während der Hauptverhandlung also mindestens teilweise der Fall, steht ab diesem Zeitpunkt für alle Verfahrensbeteiligten und die Öffentlichkeit fest, dass auch für die Schlussvorträge ein Öffentlichkeitsausschluss zu erfolgen hat.

→ Kein Entscheidungsspielraum auf Tatbestands- und Rechtsfolgenseite, daher für Öffentlichkeit deutlich erkennbar, dass Öffentlichkeit auch für die Schlussvorträge ausgeschlossen wird.

Bei einem Öffentlichkeitsausschluss nach § 171b Abs. 3 Satz 2 GVG nicht nur auf der Rechtsfolgenseite, sondern auch auf der Tatbestandsebene kein wahrzunehmender Spielraum für eine abweichende Entscheidung vorhanden ist. Zum anderen ist das Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen des Ausschlussgrundes nach § 171b Abs. 3 Satz 2 GVG aus dem bloßen Verfahrensablauf heraus sowohl für die Verfahrensbeteiligten als auch die Öffentlichkeit eindeutig zu erkennen. Dass sich für einzelne über den Ablauf der vorangegangenen Hauptverhandlung nicht informierte Zuhörer der Grund für den Ausschluss der Öffentlichkeit möglicherweise nicht erschließt, ist dabei ohne Bedeutung. Insoweit ist die Lage nicht anders als bei einer nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zulässigen Begründung eines Öffentlichkeitsausschlusses durch ausdrückliche Bezugnahme auf einen früher verkündeten Gerichtsbeschluss.


Daher kein Verstoß gegen die Öffentlichkeitsmaxime der StPO
Angesichts dieser besonderen Umstände, die sich aus der eben dargelegten gesetzlichen Ausgestaltung des Ausschließungsgrundes des § 171b Abs. 3 Satz 2 GVG ergeben, ist es ausgeschlossen, dass ein Verstoß gegen das Beschlusserfordernis des § 174 Abs. 1 Satz 2 GVG beim Vorliegen der Voraussetzungen des § 171b Abs. 3 Satz 2 GVG zu einer Verletzung der Öffentlichkeitsmaxime führt.


Einschränkende Auslegung des § 338 Nr. 6 StGB möglich
Deswegen ist es selbst unter Berücksichtigung der hohen Bedeutung des Öffentlichkeitsgrundsatzes für ein rechtsstaatliches Strafverfahren möglich, die Vorschrift des § 338 Nr. 6 StPO dahingehend einschränkend auszulegen, dass beim Vorliegen der Voraussetzungen des § 171b Abs. 3 Satz 2 GVG eine Verletzung des Beschlusserfordernisses des § 174 Abs. 1 Satz 2 GVG nicht vorliegt.


Abschließendes Ergebnis:
Verstoß gegen § 174 Abs. 1 Satz 2 GVG nicht von § 338 Nr. 6 StPO erfasst. Ein absoluter Revisionsgrund nach § 338 Nr. 6 StPO ist mithin nicht gegeben.

Ihr Team der Akademie Kraatz und der Assessor Akademie

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