Rechtmäßiges Alternativverhalten bei der objektiven Zurechnung

03.04.2024 | von Hendrik Heinze

Inwieweit es sich auf die Strafbarkeit des Täters auswirkt, wenn zwar unrechtmäßig gehandelt wurde und hierdurch ein Schaden eingetreten ist, der betreffende Schaden aber auch bei einem rechtmäßigen Alternativverhalten eingetreten wäre, ist ein Klassiker im Strafrecht.

Auswirkungen des rechtmäßigen Alternativverhaltens auf die Kausalität

Wenn der eingetretene tatbestandliche Erfolg mit Sicherheit oder zumindest möglicherweise auch bei einem rechtmäßigen Alternativverhalten des Täters eingetreten wäre, ist die Tathandlung für den betreffenden Erfolg dennoch kausal. So kann sie nach der Äquivalenztheorie unter Berücksichtigung der conditio-sine-qua-non-Formel nicht hinweggedacht werden, ohne dass der eingetretene Erfolg in seiner konkreten Gestalt entfiele. Mithin ist der Einwand des rechtmäßigen Alternativverhaltens kein Problem der Kausalität.

Pflichtwidrigkeitszusammenhang bei der objektiven Zurechnung

Das Problem wird hingegen beim Grundsatz der objektiven Zurechnung relevant. Fraglich ist dabei, ob dieser Erfolg dem Täter auch objektiv zurechenbar ist. Hierfür müsste ein Pflichtwidrigkeitszusammenhang zwischen der Tathandlung und dem eingetretenen tatbestandlichen Erfolg bestehen. Es müsste sich also die von dem Täter geschaffene rechtlich missbilligte Gefahr in dem betreffenden Erfolg realisiert haben.

Eine Ansicht (Risikoerhöhungslehre)

Nach dieser in der Literatur vertretenen Ansicht ist der eingetretene tatbestandliche Erfolg dem Täter bereits dann objektiv zurechenbar, wenn das Täterverhalten das Erfolgsrisiko erhöht hat (Roxin, ZStW 1974, 430).

Andere Ansicht (Rechtsprechung)

Nach der Rechtsprechung des BGH ist der eingetretene tatbestandliche Erfolg dem Täter mangels eines Pflichtwidrigkeitszusammenhangs nicht objektiv zurechenbar. Denn wenn der gleiche Erfolg auch bei einem pflichtgemäßen Alternativverhalten eingetreten worden wäre (bzw. sich dies nicht ausschließen lässt), ist die von dem Täter gesetzte Bedingung für den tatbestandlichen Erfolg ohne strafrechtliche Bedeutung (BGHSt 11, 1). 

Stellungnahme

Der zweiten Ansicht ist zu folgen. Für sie spricht, dass die Risikoerhöhungslehre den „in dubio pro reo“-Grundsatz (Zweifelsgrundsatz) gem. Art. 20 III GG i.V.m. Art. 6 II EMRK unzulässig einschränkt und Erfolgsdelikte zu bloßen Gefährdungsdelikten umdeutet.
So reicht es nach ihr für die Strafbarkeit wegen eines Erfolgsdelikts bereits aus, dass der Täter die Gefahr eines Erfolgseintritts geschaffen hat, ohne dass es darauf ankommt, ob sich diese Gefahr letztendlich auch wirklich in dem tatbestandlichen Erfolg realisiert hat.

Radfahrer-Fall

Um die Bedeutung der Problematik des rechtmäßigen Alternativverhaltens zu verdeutlichen, bietet sich das nachfolgende Fallbeispiel an.

Beispiel
Ein Lkw-Fahrer fährt mit erhöhter Geschwindigkeit und unter Missachtung des gebotenen Mindestabstands innerorts an einem betrunkenen Fahrradfahrer vorbei. Der Fahrradfahrer bemerkt in seinem getrübten Zustand den Lkw erst verspätet, erschreckt sich und gerät mit seinem Fahrrad unkontrolliert ins Taumeln. Es kommt zu einem Zusammenstoß mit dem Lkw-Fahrer, wodurch der Fahrradfahrer verstirbt.
Wenn feststeht, dass der Lkw-Fahrer auch bei Einhaltung der richtigen Geschwindigkeit und des richtigen Mindestabstands den Unfall nicht hätte vermeiden können (Konstellation 1), scheitert eine in Betracht kommende fahrlässige Tötung gem. § 222 StGB nach der zutreffenden Ansicht der Rspr. an der fehlenden objektiven Zurechenbarkeit des eingetretenen tatbestandlichen Erfolgs bzgl. des Täters.
Das gilt aufgrund des „in dubio pro reo“-Grundsatzes gem. Art. 20 III GG i.V.m. Art. 6 II EMRK auch dann, wenn nicht mit Sicherheit feststeht, ob der Unfall durch das pflichtwidrige Verhalten des Lkw-Fahrers bewirkt wurde oder ob er auch bei einem rechtmäßigen alternativen Verhalten eingetreten wäre, selbst wenn durch das Fehlverhalten des Lkw-Fahrers das Risiko des Erfolgseintritts erhöht wurde (Konstellation 2).

Hinweis: Sogar nach der Risikoerhöhungslehre wäre in Konstellation 1 des Fallbeispiels eine objektive Zurechenbarkeit des eingetretenen tatbestandlichen Erfolgs bzgl. des Täters zu verneinen. Schließlich steht hier fest, dass der Erfolg auch bei einem rechtmäßigen Handeln eingetreten wäre, dass das Täterverhalten die Wahrscheinlichkeit des Erfolgseintritts also nicht erhöht hat.
Im Konstellation 2 des Fallbeispiels wäre eine objektive Zurechenbarkeit hingegen zu bejahen, da es nach der Risikoerhöhungslehre für eine Strafbarkeit bereits ausreicht, wenn das Täterverhalten die Wahrscheinlichkeit des Erfolgseintritts erhöht hat. Mithin wäre hier das Verhalten des Täters strafrechtlich beachtlich.

Fazit zum rechtmäßigen Alternativverhalten

Wie Ihr seht, stecken hinter dem anfangs recht einfach anmuteten Problem des rechtmäßigen Alternativverhaltens rechtsdogmatisch durchaus anspruchsvolle Gedankengänge. Nicht umsonst werden im Rahmen der objektiven Zurechenbarkeit des eingetretenen tatbestandlichen Erfolgs bezüglich des Täters häufig Fehler gemacht. Und zwar nicht nur in den Klausuren des Studiums, sondern gerade auch in den entscheidenden Prüfungen der beiden Staatsexamina.
Dies liegt einerseits daran, dass die Klausurbearbeiter häufig den Sachverhalt nicht genau genug lesen, weshalb sie etwaige Streitstände schlicht und einfach übersehen. Zum anderen wird vereinzelt nicht präzise genug gearbeitet. Ein folgenschweres Missgeschick ist auch die immer wieder auftretende Vermischung von Problemen der objektiven Zurechnung mit denen der Kausalität.
Angesichts des immensen Zeitdrucks in strafrechtlichen Klausuren und der herrschenden Aufregung bei der Bearbeitung sind die vorgenannten Versäumnisse zwar nachvollziehbar, aber unter dem Strich trotzdem höchst ärgerlich. Umso mehr gilt das, wenn auch mangelndes Klausurenschreiben zumindest einer der Fehlergründe war.

Hilfe im Strafrecht

Wenn Ihr in Euren Strafrechtsprüfungen durchfallt oder nicht über die Note „ausreichend“ (4 bis 6 Punkte) hinauskommt, dann seid Ihr leider nicht allein. Trotz der verhältnismäßig „geringen“ Stoffmenge fallen Strafrechtsklausuren oftmals nicht besonders gut aus. Dies ist vor allem darauf zurückzuführen, dass die strafrechtliche Materie im Detail sehr komplex ist und dass man bei Strafrechtsklausuren deutlich mehr schreiben muss als in der typischen BGB Klausur.
Unsere qualifizierten Dozenten der Akademie Kraatz (Grundstudium bis 1. Examen) und der Assessor Akademie (2. Examen) stehen Euch gerne zur Seite, wenn Ihr Euch im Strafrecht verbessern möchtet. Ruft uns gerne für einen kostenlosen Probetermin an.
 
Hendrik Heinze
Geschäftsführer der Assessor Akademie Kraatz und Heinze GbR
 

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