Rechtsprechungsübersicht Öffentliches Recht: 09. 2023: „AfD gegen Bürgermeister Müller", VerfGH Bln, Urt. v. 20.02.2019–80/18


Sachverhalt:

Die AfD veranstaltete eine Versammlung mit etwa 5.000 Teilnehmern zum Thema „Zukunft für Deutschland–für Freiheit und Demokratie“.
Anlässlich dieser Versammlung wurden am selben Tag zahlreiche weitere Versammlungen durchgeführt, die sich teilweise ausdrücklich gegen die AfD richteten.
Die Versammlung der AfD endete um15:16 Uhr.
Gegen 17:30 Uhr postete Berlins Bürgermeister über Twitter: „Zehntausende in #Berlin heute auf der Straße, vor dem #BrandenburgerTor und auf dem Wasser. Was für ein eindrucksvolles Signal für Demokratie und #Freiheit, gegen Rassismus und menschenfeindliche Hetze."
Die AfD sah sich in ihrem Recht auf Chancengleichheit der politischen Parteien verletzt, und leitete daraufhin das Organstreitverfahren ein.


Entscheidung:

1. Die Klage ist zulässig, aber unbegründet und hat daher keinen Erfolg.

2. Eine Beeinträchtigung der Chancengleichheit im politischen Wettbewerb findet nur statt, wenn sich der Inhaber eines Regierungsamtes in amtlicher Funktion wertend äußert. Das ist dann der Fall, wenn er Möglichkeiten nutzt, die ihm aufgrund seines Regierungsamtes zur Verfügung stehen, während sie den politischen Wettbewerbern verschlossen sind.

3. Die Verpflichtung, einseitig parteiübergreifende Stellungnahmen zugunsten oder zulasten politischer Parteien zu unterlassen, betrifft nur solche Äußerungen, die einen ausreichenden Bezug zu einer Partei aufweisen. Dafür ist zwar nicht erforderlich, dass eine Partei in der Äußerung explizit genannt wird. Jedoch liegt ein Eingriff in das Recht auf Chancengleichheit nicht vor, wenn eine Partei von einer Äußerung weder direkt und unmittelbar noch in unmissverständlicher Weise indirekt und mittelbar betroffen wird. Auch lediglich reflexartige Wirkungen reichen nicht aus.

4. Zwar hat der Antragsgegner, indem er die Nachricht über den Twitter-Account des Regierenden Bürgermeisters verbreitet hat, in amtlicher Funktion gehandelt. Er war daher dem Neutralitätsgebot unterworfen. Die Nachricht greift in das Recht auf Chancengleichheit im politischen Wettbewerb jedoch nicht ein, weil es ihr an dem dafür erforderlichen ausreichenden Parteibezug fehlt und sie das Neutralitätsgebot daher wahrt.

 

In der Klausur:

1. Die Gerichte sind oft mit dem Recht auf Chancengleichheit und dem Neutralitätsgebot beschäftigt, sodass diese Themen Examensrelevanz aufweisen.

2. Ob ein Eingriffin das Recht auf Chancengleichheit vorliegt, ist durch Auslegung aus der Perspektive eines objektiven Betrachters zu ermitteln. Ein Eingriff liegt nicht vor, wenn:
-die Äußerung allgemeine Grundwerte der Verfassung hervorhebt und
-weder einen Parteinamen noch sonst eine Kollektivbezeichnung enthält, die eine einzelne Partei als Bezugspunkt der Äußerung nahe legt.

3. Abzugrenzen ist von der Befugnis der Regierung zur Öffentlichkeitsarbeit, deren Aufgabe es ist, den Grundkonsens der Bürger über die von der Verfassung geschaffene Staatsordnung lebendig zu erhalten.

4. Der Tweet beschränkte sich nur darauf, sich mit allgemeinen Wertbekenntnissen von den Demonstranten zu solidarisieren. Damit sind Grundpositionen der Regierungsarbeit angesprochen, die zum Wesensgehalt des Grundrechtsteils der Verfassung gehören, deshalb nach Art. 19 II GG nicht angetastet werden dürfen und mithin jedem Parteienstreit entzogen sind.


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