Rechtsprechungsübersicht Öffentliches Recht: 10. 2023: Überlange Untersuchungshaft BVerfG Urt. v. 21.09.2023 - 2 BvR 825/23


Sachverhalt:

Gegen den Beschwerdeführer wurde wegen des Verdachts mehrerer Wirtschaftsstraftaten seit Februar 2021 ermittelt. Das AG Frankfurt erließ am 14.06.2022 auf Antrag der StA einen Haftbefehl. Der Beschwerdeführer wurde auf dieser Grundlage am 30.06.2022 verhaftet. Seither befindet sich der Beschwerdeführer ununterbrochen in Untersuchungshaft.
Am 13.12.2022 übersandte die StA zwecks Haftprüfung nach §§ 121, 122 StPO die Akte an das OLG Frankfurt a.M. und beantragte Fortdauer der U-Haft. Der Beschwerdeführer beantragte gegenüber dem OLG am 09.01.2023 die Aufhebung des Haftbefehls. Das OLG blieb untätig. Am 29.03.2023 bat der Beschwerdeführer um Mitteilung, wann mit einer Entscheidung des OLG zu rechnen sei. Hieraufhin teilte das OLG mit, dass der Berichterstatter längerfristig erkrankt sei. Der Vertretung sei das Schreiben am 24.03.2023 vorgelegt worden. Angesichts „eigener vorrangig zu bearbeitender Haftsachen und anstehenden Urlaubs [der Vertretung] sei derzeit nicht absehbar, wann eine Entscheidung ergehen werde“. Hieraufhin erhebt der Beschwerdeführer am 16.06.2023 Verfassungsbeschwerde gegen die Nichtentscheidung des OLG und beantragt den Haftbefehl im Wege der einstweiligen Anordnung aufzuheben. Er rügt eine Verletzung seiner Grundrechte aus Art. 2 II GG und Art. 19 IV GG.

Entscheidung:

1. Die Beschwerde ist zulässig und „offensichtlich“ begründet und hat daher Erfolg.

2. Die überlange Dauer des Haftprüfungsverfahrens verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz, Art. 19 IV GG.

In der Klausur:

1. Neben dem gemeinhin bekannten Grundrechtskatalog in Art. 1 bis 18 GG sind die Justizgrundrechte bzw. grundrechtsgleichen Rechte ein nicht zu vernachlässigender Mechanismus zum Schutz des Bürgers vor der Staatsgewalt. Sie ergeben sich aus Art. 19 IV GG (Rechtsschutzgarantie), Art. 101 I S.2 GG, Art. 103 I GG, Art. 103 II und III GG und Art. 104 GG.

2. (P) Die Verletzung von Art. 19 IV GG setzt eine „öffentliche Gewalt“ voraus. Nach hM fällt grundsätzlich weder die Legislative noch die Judikative unter diesen Begriff. Wird die Judikative allerdings „außerhalb ihrer spruchrichterlichen Tätigkeit auf Grund eines ausdrücklich normierten Richtervorbehaltes tätig“ ist auch sie als „öffentliche Gewalt“ iSd Norm zu verstehen.

3. Im vorliegenden Fall wird das OLG Frankfurt aufgrund seiner richterlichen Kompetenz zur Haftprüfung nach §§ 121, 122 StPO angerufen. Die Haftprüfung stellt einen ebensolchen, außerhalb der spruchrichterlichen Tätigkeit liegenden, Richtervorbehalt dar.

4. Der Anspruch auf effektiven Rechtsschutz ergibt sich aus Art. 2 II S.2 GG iVm Art. 104 GG. Zudem ist bei einem Haftprüfungsverfahren Art. 5 IV EMRK als Auslegungshilfe deutscher Grundrechte zu berücksichtigen.


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