Rechtsprechungsübersicht Öffentliches Recht: Lebenslänglich frei anstatt Lebenslang: BVerfG Urt. v.31.10.2023-2 BvR900/22



Sachverhalt:
Der Beschwerdeführer B wurde seit dem. 21.05.1983 rechtskräftig durch Urteil des LG Stade vom Vorwurf der Vergewaltigung und des Mordes freigesprochen. Mittlerweile wurden durchdie Möglichkeit einer DNA-technischen Untersuchung neue Beweise für die Tat gefunden.Nach Einführung des § 362 Nr.5 StPO stellte die StA im Februar 2022 beim LG Verden einen Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens nach der Vorschrift und auf Erlass eines Haftbefehls.
Das LG erklärte den Wiederaufnahmeantrag mit Beschluss vom 25.02.2022 für zulässig und ordnete Untersuchungshaft an. Die hiergegen gerichtete Beschwerde zum OLG Celle wurde durch Beschluss am 20.04.2022 verworfen. B richtet sich mit seiner Verfassungsbeschwerde gegen die Beschlüsse des OLG und des LG sowie mittelbar gegen §362 Nr.5 StPO.
Er führt eine Verletzung seiner Rechte aus Art. 103 III GG sowie aus Art. 2I iVm. Art. 20 III GG an.

Entscheidung:
1. Die Beschwerde des B ist zulässig und begründet. § 362 Nr.5 StPO ist verfassungswidrig und damit nichtig.

2. Art. 103 III GG enthält neben dem Mehrfachbestrafungsverbot auch ein Mehrfachverfolgungsgebot. Dieses schützt Verurteilte und Freigesprochene gleichermaßen.

3. „Das in Art. 103 III GG statuierte Mehrfachverfolgungsverbot trifft eine Vorrangentscheidung zugunsten der Rechtssicherheit gegenüber der materialen Gerechtigkeit.“
Diese Entscheidung lässt keine Abwägung mit anderen Rechtsgütern von Verfassungsrang zu. Dem Gesetzgeber kommt insofern kein Ausgestaltungsfreiraum des Wiederaufnahmerechts zu.

4. Die Wiederaufnahme zuungunsten des Grundrechtsträgers ist durch Art. 103 III GG nicht generell ausgeschlossen, jedenfalls aber dann, wenn die Wiederaufnahme aufgrund neuer Tatsachen oder Beweismittel stattfindet.

In der Klausur:

1. Der hier berührte Grundsatz ist „ne bis in idem“–nicht zweimal aus derselben Sache.
Aus Art. 103 GG ergeben sich uA. die sog. „Justizgrundrechte“.

2. (P)Das BVerfG hat in BVerfGE 56, 22 zwar dargelegt, dass mangels Ausgestaltungsfreiraum des Wiederaufnahmerechts der Gesetzgeber „Grenzkorrekturen im Randbereich des Art. 103 III GG“ vornehmen dürfe, hierzu gehört allerdings nicht, dass vollkommen neue, beliebige Wiederaufnahmegründe ergänzt werden dürfen.

3. Das Rückwirkungsverbot ist in Bezug auf die unechte und echte Rückwirkung differenziert zu behandeln. Unechte Rückwirkung liegt vor, wenn auf einen noch nicht abgeschlossenen Sachverhalt für die Zukunft eingewirkt wird und hierdurch die Grundrechtsposition nachträglich entwertet wird. Die unechte Rückwirkung ist grundsätzlich zulässig. Ob sie im Einzelfall zulässig ist, ist im Rahmen der Begründetheit einer Verfassungsbeschwerde im Wege der Verhältnismäßigkeit zu prüfen. Es muss eine einzelfallbezogene Prüfung erfolgen.

Die echte Rückwirkung hingegen liegt vor, wenn auf einen abgeschlossenen Sachverhalt nachträglich durch Gesetz Einfluss genommen wird. Sie ist grundsätzlich unzulässig. Ausnahmen hiervon liegen vor, wenn der Bürger mit Neuregelung rechnen musste, geltendes Recht unklar und verworren ist, der Bürger sich nicht auf den Rechtsschein einer nichtigen Norm verlassen durfte, zwingende Gründe des Gemeinwohls über dem Gebot der Rechtssicherheit stehen und bei Bagatellfällen. Die Prüfung erfolgt im Rahmender Begründetheit unter einer Abwägung mit dem Rechtsstaatsprinzip aus Art. 20 III GG.


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