Sachverhalt:
T, dem die Inflation zu schaffen macht, beschließt beim Einkaufen eine Packung Nudeln und eine Flasche Olivenöl zu entwenden. Hierfür packt er beides in seinen Rucksack. Der Ladendetektiv O beobachtet den T und stellt diesen an der Kasse. T greift O daraufhin mittels eines schwungvoll geführten Stichs mit einem Springmesser an, um sich im Besitz der Beute zu halten und einer Festnahme zu entgehen. Hierbei nimmt er billigend in Kauf den O auch lebensgefährlich zu verletzen. O bleibt nur deshalb unverletzt, weil er ausweicht. T kann mit der Beute fliehen.
Entscheidung:
Die Strafkammer des LG Oldenburg hat angenommen, der Körperverletzungsversuch sei „bereits beendet und fehlgeschlagen, jedenfalls aber der Rücktritt hiervon nicht freiwillig“. Diese Annahme ist rechtsfehlerhaft.
Bedeutung für die Klausur:
1. Der hiesige Fall stellt hinsichtlich des Diebstahls und des räuberischen Diebstahls einen „Klassiker“ dar. Der Rechtsfehler des LG Oldenburg hinsichtlich der versuchten Körperverletzung bietet allerdings Gelegenheit, nochmals dezidiert die Voraussetzungen des Versuchs und des Rücktritts zu beleuchten.
2. Hinsichtlich des Diebstahls nach §§ 242 I, 244 I Nr.1a StGB ist zu beachten, dass der Täter bereits dann eine Gewahrsamsenklave begründet, wenn er die Gegenstände in seinen Rucksack schafft und diese somit in seine persönliche Sphäre bringt. Letztere ist jeder Bereich, in den ein Zugriff durch Dritte nicht ohne Rechtfertigung möglich ist. Im Rahmen der Beobachtung durch den Ladendetektiv O muss das Schlagwort „Diebstahl ist kein heimliches Delikt“ im Rahmen des Gewahrsamsbruchs fallen.
3. Für die Strafbarkeit aus §§ 252, 250 II Nr.1a StGB ist belegen, dass die Tat vollendet aber nicht beendet ist, denn der Gewahrsam ist so lange noch nicht gesichert, wie T sich noch im Laden befindet. Durch die Wahrnehmung unmittelbar während der Tat war er auch auf frischer Tat betroffen. Der Stich trifft den O zwar nicht, sodass keine Gewalt vorliegt, allerdings kann hierin auch eine Drohung für Leib und Leben des O gesehen werden. Achtung: Dass die Gewalt das Opfer nicht trifft (sei es absichtlich oder aus anderen Gründen) ist in der Klausur zu erkennen und sodann deutlich herauszuarbeiten, dass hierin aber jedenfalls eine implizite Drohung gesehen werden kann! Mithin liegt hier auch ein qualifiziertes Nötigungsmittel (Unterschied Raub und räuberischer Diebstahl zur bloßen Nötigung) vor.
4. Im Rahmen der Vorprüfung eines Versuchs, hier der Körperverletzung nach §§ 223 I, 224 I Nr.2 Var.1, Nr.5, II, 22, 23 I StGB ist immer zunächst zu prüfen, ob der tatbestandliche Erfolg ausgeblieben ist (sonst ist es ein Vollendungsdelikt) und ob eine Versuchsstrafbarkeit gegeben ist. Letzteres ergibt sich bei Vergehen, § 12 II StGB iVm § 23 I Var.2 StGB immer aus dem Tatbestand der Norm selbst, bei Verbrechen aus § 23 I Var.1 StGB. Ist die Vorprüfung unproblematisch reicht ein einfacher Satz wie: „der tatbestandliche Erfolg der Körperverletzung ist ausgeblieben, O ist unverletzt, die Versuchsstrafbarkeit ergibt sich indessen aus § 223 II StGB iVm § 23 I Var.2 StGB.“
5. Der Täter muss unbedingten Tatentschluss hinsichtlich aller objektiver Tatbestandsmerkmale bei Vorliegen aller allgemeinen und speziellen subjektiven Merkmale haben (unbedingter Tatentschluss). Der T nimmt hier billigend in Kauf, dass der O durch einen Stich verletzt wird. Zudem ist ihm bewusst, dass es sich bei dem Springmesser um eine Waffe iSd § 224 I Nr.5 StGB handelt.
6. Indem T subjektiv die Schwelle zum „jetzt geht’s los“ überschritten hat und aus seiner Sicht keine weiteren Zwischenschritte zur Tatbestandsverwirklichung nötig sind, hat er unmittelbar zur Tat angesetzt. Die sog. „Kombinationsformel“ der hL fasst die Elemente der Zwischenaktstheorie (keine wesentlichen Zwischenakte) und der subjektiven Theorie („jetzt geht’s los“) zusammen. Laut dem BGH ist darüber hinaus wesentliches Kriterium das „aus der Sicht des Täters erreichte Maß konkreter Gefährdung des geschützten Rechtsguts“. In der Klausur reicht es regelmäßig aus lediglich mithilfe der Kombinationsformel zu subsumieren.
7. Das Fliehen aus dem Supermarkt könnte einen Rücktritt nach § 24 StGB darstellen. Grundsätzlich ist für den Rücktritt zunächst zu prüfen, ob der Versuch fehlgeschlagen ist. Ist dies der Fall, ist der Rücktritt ausgeschlossen. Ob ein Fehlschlag vorliegt wird unterschiedlich betrachtet. Nach der Einzelaktstheorie liegt ein solcher dann vor, wenn der Täter erkennt, dass eine einzelne, aus seiner Sicht erfolgstaugliche Handlung, fehlgeschlagen ist. Nach der Gesamtbetrachtungslehre liegt ein Fehlschlag vor, wenn aus Tätersicht der Erfolg nicht ohne zeitliche Zäsur oder wesentliche Änderung des Tatplans herbeigeführt werden kann. Gegen erstere Ansicht und damit für die Gesamtbetrachtungslehre spricht, dass der Täter im schlimmsten Fall motiviert wird seine Tat zu beenden, denn ein Rücktritt ist sowieso nicht mehr möglich. Dies steht allerdings diametral dem Telos des Rücktritts als „goldene Brücke“ zurück auf den Boden der Rechtsordnung entgegen. Im Fall ist zumindest nach der Gesamtbetrachtungslehre nicht von einem Fehlschlag auszugehen.
8. Welche Mittel der Täter anstrengen muss um zurückzutreten ist abhängig davon, ob es sich um einen beendeten oder unbeendeten Versuch handelt. Bei ersterem muss der Täter alles tun um den tatbestandlichen Erfolg zu verhindern, bei letzterem reicht ein bloßes Ablassen von der weiteren Tatausführung aus. Ein unbeendeter Versuch liegt vor, wenn aus Tätersicht noch nicht alles zur Erfolgsverwirklichung Notwendige getan ist. Im Fall liegt ein unbeendeter Versuch vor, der Täter kann durch bloßes Unterlassen zurücktreten.
9. Wichtig für unseren Fall ist insbesondere die Freiwilligkeit des Rücktritts. Differenziert wird in autonome (griech. „selbstständig“) und heteronome (griech. „fremd“) Motive. Ein Rücktritt soll nur dann freiwillig sein, wenn der Täter aus autonomen Motiven handelt, also nicht fremdmotiviert ist. Problematisch in diesem Zusammenhang sind sog. „außertatbestandliche Ziele“. Der Täter will mit seinem Handeln nicht immer (nur) den Tatbestand verwirklichen, sondern verfolgt möglicherweise auch Motive die neben demselben stehen. Im hiesigen Fall will der Täter durch die Drohung dafür sorgen, dass er die Beute sichern kann, was ihm dann schließlich auch gelingt. Ob in einem solchen Fall ein Rücktritt weiter möglich sein soll ist umstritten. Dafür den Rücktritt dennoch als freiwillig anzusehen, so wie es der BGH hier gemacht hat, spricht uA der Wortlaut von § 24 I S.1 StGB wonach sich der Rücktritt auf die „Tat“ bezieht, für die außertatbestandliche Aspekte gerade irrelevant sind. Dagegen wird allerdings oft angeführt, dass eine Tataufgabe gerade nicht mehr freiwillig ist, wenn die weitere Tatausführung für den Täter sinnlos geworden ist.
10. Das Problem lässt sich sowohl im Fehlschlag, bei den objektiven Rücktrittsvoraussetzungen oder in der Freiwilligkeit diskutieren. Will man der hL folgen und einen freiwilligen Rücktritt ausschließen bietet es sich an das Problem im Rahmen des Fehlschlags zu diskutieren. Merke: Es kommt für alle Punkte der Rücktrittsprüfung stets auf die Tätervorstellung an, ist die weitere Tatausführung sinnlos, könnte der Versuch daher bereits fehlgeschlagen sein.
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