Rechtsprechungsübersicht Strafrecht: 10. 2023: "Gemeinschaftliche Körperverletzung durch Unterlassen" BGH Beschl. v. 17.01.2023 



Sachverhalt: 

T und S leben von Sozialleistungen. Im Mai 2018 wurde O als gemeinsames Kind der T und des S gesund geboren, sie wog zu diesem Zeitpunkt 3050 Gramm. T richtete ihren Alltag nach der Geburt nicht nach den Bedürfnissen von O, sondern verbrachte diesen vielmehr mit Ausflügen, Wanderungen und Fernreisen. Bei der U5 Untersuchung, welche im 6-7 Lebensmonat durch die Kinderärztin erfolgte, stellte diese eine leichte Unterernährung der O fest. Den anberaumten Kontrolltermin versäumte T. Anfang 2019 verfiel T in finanzielle und psychische Probleme. S unterstütze weder T noch O. Beide bemerkten den körperlichen Verfall von O und setzten sich dafür ein, dass dieser durch Dritte unbemerkt blieb. T und S sparten an Babynahrung und gaben jeweils nur wenige Löffel essen, der Rest verschimmelte. Anfang Mai 2019 bemerkte T aus dem Zimmer der O ein Röcheln und befürchtete, dass O versterben würde. Sie schickte S um nach O zu gucken. Dieser fand O reglos vor, woraufhin T und S die O zur nächsten Rettungswache brachten. O wurde sowohl dort, als auch darauffolgend im Krankenhaus zweifach reanimiert. Es wurde ein „Hungerdarm“ aufgrund von Unterernährung diagnostiziert. Das Kind wog gerade einmal 4000 Gramm. Es wurde nach einer erfolgreichen Behandlung aus dem Krankenhaus entlassen und in eine Pflegefamilie gegeben. O zeigt eine globale Entwicklungsstörung und wird voraussichtlich kognitiven Einschränkungen unterliegen.

Entscheidung:

1. Der BGH verurteilte T und S wegen schwerer Misshandlung von Schutzbefohlenen durch Unterlassen. Die Verurteilung des Landgerichts wegen schwerer Misshandlung von Schutzbefohlenen durch Unterlassen in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung durch Unterlassen wurde aufgehoben.

2. § 224 I Nr.4 StGB setzt voraus, dass die Körperverletzung gemeinschaftlich begangen wird. Das ist bei einem Unterlassen durch zwei Garanten nicht der Fall.

3. Die Qualifikation des § 224 I Nr.4 StGB soll das Opfer vor den besonderen Gefahren schützen welche daraus herrühren, dass es übermächtigt wird. Eine solche Übermacht entsteht gerade aus dem Zusammenwirken mehrerer Personen.

Bedeutung für die Klausur:

1. Laut BGH setzt die gemeinschaftliche Begehung in § 224 I Nr.4 StGB einen aktiven Beitrag und Anwesenheit der Täter am Tatort voraus. Nur dann wird die Gefahr der Körperverletzung im Sinne einer Qualifikation erhöht.

Reicht die reine physische Anwesenheit einer weiteren Person am Tatort nicht aus, um eine gemeinschaftliche Begehung nach § 224 I Nr.4 StGB zu begründen, muss dies erst recht für einen am Tatort anwesenden Garanten die Strafbarkeit ausschließen.

2. Nach der Literatur reicht es für eine gemeinschaftliche Begehung des § 224 I Nr.4 StGB bereits aus, wenn der Täter durch einen Beteiligten unterstützt wird. Die physische Anwesenheit am Tatort oder konkrete Unterstützung in der Verletzungshandlung wird dabei nicht zwangsläufig gefordert. Hiernach wäre eine Strafbarkeit nach § 224 I Nr.4 StGB möglich.

3. Die Entscheidung des 2. Senats steht im Konflikt mit einer Entscheidung des 6. Senats (BGH 6 StR 275/22 – 17.Mai 2023). Hier hat der BGH die Strafbarkeit aus § 224 I Nr.4 StGB durch Unterlassen allein durch Anwesenheit am Tatort für möglich gehalten. In der Literatur wird diese Entscheidung im Hinblick auf die Entsprechungsklausel, § 13 I StGB, begrüßt und der 2. Senat in seiner Argumentation dahingehend kritisiert, dass für ein kollusives Zusammenwirken der Garanten kein Raum bleibt.



RSS Feed abonnieren