Rechtsprechungsübersicht Strafrecht: 11. 2023: Klimakleben ist verwerflich LG Berlin Urteil . v. 18 .01 .2023 – 518 Ns 31/22


Sachverhalt:

Der 21-jährige T studiert Medizin. Am 04.02.2022 beteiligte er sich an einer Straßensitzblockade der Gruppierung „Aufstand der letzten Generation“ auf der Bundesautobahn 100. Er und elf weitere Personen setzten sich aufgrund eines gemeinsamen Tatplans auf die Fahrbahn, wobei die beiden äußersten Personen sich am Fahrbahnrand festklebten.
Die anderen Teilnehmer rollten Transparente aus. Hierdurch wollte die Gruppe die Fahrer bis zum Eintreffen der Polizei und Beendigung der Räumung an der Weiterfahrt hindern. Wie beabsichtigt konnte zwischen 7:15 und 8:45 kein Fahrzeug die Stelle passieren. Es kam zu erheblicher Rückstauung.
Die Blockade war auch nicht zu umfahren, sie war nicht angekündigt. Es wurde lediglich auf der Website der Gruppe abstrakt auf mögliche Aktionen auf der Autobahn 100 hingewiesen, ohne konkrete Orts- oder Zeitangaben.
Die Polizei hatte die Versammlung um 7:30 Uhr per Lautsprecher in verständlicher Weise aufgefordert, die Versammlung auf den Gehweg einer Brücke zu verlegen. Nach der dritten Durchsage ohne Reaktion der Teilnehmer wurden diese einzeln weggetragen und die Versammlung aufgelöst.

Entscheidung:

1. Das LG hat das Urteil des AG Tiergarten vom 18.10.2022 wegen Nötigung gem. § 240 I StGB bestätigt und die Berufung des Angeklagten verworfen.

2. Gewalt iSd. § 240 I StGB liegt bei physisch vermitteltem Zwang zur Überwindung eines geleisteten oder erwarteten Widerstandes vor. Die Fahrer direkt vor den Demonstranten könnten diese zwar überfahren, sind also keinem physischen, sondern lediglich psychischen Zwang ausgesetzt, die Fahrer der zweiten Reihe werden allerdings durch die Autos in der ersten Reihe an der Weiterfahrt gehindert (Zweite-Reihe-Rechtsprechung).

3. Die Tat ist verwerflich iSd. § 240 II StGB und insbesondere nicht durch die in Art. 8 I GG geschützte Versammlungsfreiheit geschützt. Die Zweck-Mittel-Relation ergibt, dass der Einsatz des Nötigungsmittels der Gewalt zu dem angestrebten Zweck (Aufmerksamkeit) verwerflich ist.

Bedeutung für die Klausur:

1. Die „Zweite-Reihe-Rechtsprechung“ des BGH gehört zu den Standardproblemendes Gewaltbegriffs in § 240 StGB. Hiernach ist Gewalt iSd. § 240 I StGB nur dann gegeben, wenn ein körperlicher Zwang auf das Opfer wirkt.
Opfer sind hier die Fahrer in zweiter Reihe (und darüber hinaus). Die Täter machen die Fahrer der ersten Reihe mittels psychischen Zwangs zu Tatmittlern physischer Gewalt auf die zweite Reihe.

2. Der vorliegende Fall eignet sich besonders gut für eine Examensklausur, weil er sowohl diese gefestigte Rechtsprechung als auch die Frage der Verwerflichkeit im Wege der Zweck-Mittel-Relation aufgreift.

3. Ein vergleichbares Urteil ist bereits 2011 vom BVerfG gekippt worden (Az. 1BvR 388/05), das LG hatte die Eröffnung des Schutzbereichs der Versammlungsfreiheit verkannt. Die Entscheidung des LG Berlin unterscheidet sich dahingehend, dass in diesem neuen Fall keine Ankündigung der Versammlung stattgefunden hat. Auch hat das LG Berlin den Schutzbereich des Art. 8 I GG als eröffnet angesehen. Allerdings ist es, genau wie das LG damals, im Rahmen der Verwerflichkeit zum gleichen Ergebnis gekommen.


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