„Retterfälle“bei der objektiven Zurechnung im StGB

15.04.2024 | von Hendrik Heinze

Inwiefern bei den „Retterfällen“, in denen ein freiwilliger Retter Rechtsgutsverletzungen erleidet, eine eigenverantwortliche Selbstgefährdung oder -schädigung des Opfers vorliegt, ist ein häufiges strafrechtliches Klausurproblem.

Eigenverantwortliche Selbstgefährdung oder -schädigung des Opfers?

Eine eigenverantwortliche Selbstgefährdung oder -schädigung des Opfers setzt sowohl nach der h.M. als auch nach Ansicht der Rspr. eine betreffende Tatherrschaft voraus (vgl. BGH, Urteil vom 20.11.2008 – 4 StR 328/08).
Tatherrschaft ist das vom Vorsatz umfasste In-den-Händen-Halten des tatbestandsmäßigen Geschehensablaufs. Der unmittelbar Handelnde müsste also als eine Zentralfigur des realen Geschehens aufgrund seines objektiven und subjektiven Tatbeitrags das Ob und Wie der Tatbestandsverwirklichung beherrschen. Die Tat müsste in diesem Sinne zumindest auch als ein Werk seines zielstrebig lenkenden Willens erscheinen.

Kausalität

Bei der eigenverantwortlichen Selbstgefährdung oder -schädigung des Opfers nach einem Vorverhalten des Täters ist die Tathandlung für den betreffenden tatbestandlichen Erfolg dennoch kausal. So kann sie nach der Äquivalenztheorie unter Berücksichtigung der conditio-sine-qua-non-Formel nicht hinweggedacht werden, ohne dass der eingetretene Erfolg in seiner konkreten Gestalt entfiele.

Entscheidendes Kriterium: Objektive Zurechnung

Der betreffende tatbestandliche Erfolg ist dem Täter aber nicht objektiv zurechenbar. So besteht kein Pflichtwidrigkeitszusammenhang zwischen der Tathandlung und dem eingetretenen tatbestandlichen Erfolg. Es hat sich also nicht die von dem Täter geschaffene rechtlich missbilligte Gefahr in dem betreffenden Erfolg realisiert. In dem Erfolgseintritt realisiert sich vielmehr die durch das Opfer geschaffene Gefahr.

Exkurs: Rechtliche Einordnung der objektiven Zurechnung im StGB

In der Literatur ist es allgemein anerkannt (h.M.), das Erfordernis der „objektiven Zurechenbarkeit des eingetretenen tatbestandlichen Erfolgs bzgl. des Täters“ bei vorsätzlichen Erfolgsdelikten i.R.d. objektiven Tatbestands nach der „Kausalität der Tathandlung für den eingetretenen tatbestandlichen Erfolg“ zu prüfen.
Diese Ansicht hat sich in der Rspr. noch nicht einheitlich durchgesetzt. Sie verzichtet bei vorsätzlichen Erfolgsdelikten vielmehr größtenteils weiterhin auf das Kriterium der objektiven Zurechenbarkeit. Stattdessen vermeidet sie eine ausufernde Strafbarkeit infolge der Weite der Äquivalenztheorie unter Berücksichtigung der conditio-sine-qua-non-Formel mit dem Verweis auf das Zusammenspiel zwischen dem subjektiven Tatbestand und der Kausalität. Da sich der Vorsatz schließlich auch auf die Kausalität beziehen muss, ist bei wesentlichen Abweichungen des Kausalverlaufs von der Tätervorstellung schlicht der Vorsatz ausgeschlossen, womit eine betreffende Strafbarkeit ausscheidet. Bisher geht die höchstrichterliche Rspr. einzig bei der Beteiligung an einer eigenverantwortlichen, bewussten Selbstgefährdung oder -schädigung des Opfers sowie allgemein bei Fahrlässigkeitsdelikten auf Aspekte der Lehre der objektiven Zurechnung tatbestandlich ausdrücklich ein (vgl. BGH, Urteil vom 03.12.2015 – 4 StR 223/15; BGH, Beschluss vom 11.07.1991 – 1 StR 357/91; BGHSt 32, 262 ff.; Lasson, ZJS 2009, 359, 360).
Beide Ansichten sind in diesem Zusammenhang gut vertretbar, doch ist gerade im Hinblick auf die Prüfungen des Ersten Staatsexamens die h.M. üblicher. Da es sich um eine Aufbaufrage handelt, ist die eigene Herangehensweise jedoch nicht zu begründen. Mithin sollte man im 1. Staatsexamen auch bei Erfolgsdelikten den Aufbau der Literatur wählen und die objektive Zurechnung prüfen.
Tipp: Die Problematik der Retterfälle wird in Klausuren meistens im Kontext der fahrlässigen Tötung gem. § 222 StGB oder der fahrlässigen Körperverletzung gem. § 229 StGB eingebaut.

Darstellung des Meinungsstreits in der Klausur

Fraglich ist also, ob in den sog. „Retterfällen“, in denen ein freiwillig eingreifender Retter Rechtsgutsverletzungen erleidet, eine (eigenverantwortliche) Selbstgefährdung oder -schädigung des Opfers vorliegt, welche die objektive Zurechenbarkeit des eingetretenen tatbestandlichen Erfolgs bzgl. des den Rettungsfall verursachenden Täters ausschließt.

Eine Ansicht

Nach einer Ansicht liegt grds. eine von ihm zu verantwortende Selbstgefährdung oder -schädigung des Retters vor. Insbesondere ist zu beachten, dass ein „Retterrisiko“ nahezu allen Straftaten immanent ist. Wenn sich ein Retter bei der Rettungstat verletzt, realisiert sich also keine dem jeweiligen Vorverhalten des Täters spezifisch innewohnende Gefahr (Roxin, FS Puppe, S. 909, 926).

Andere Ansicht

Nach einer anderen Ansicht liegt stets keine Selbstgefährdung oder -schädigung des Retters vor. Vielmehr sind die Rettungsmaßnahmen immer der Risikosphäre des Erstverursachers zuzurechnen (Amelung, NStZ 1994, 338).

Weitere Ansicht (Rspr.)

Nach einer weiteren Ansicht ist der eingetretene tatbestandliche Erfolg objektiv zuzurechnen, wenn der Täter durch sein Vorverhalten eine naheliegende Möglichkeit und ein einsichtiges Motiv für die Rettungshandlung geschaffen hat. Dies ist z.B. dann der Fall, wenn der Retter verpflichtet ist, einzugreifen. In diesem Sinne liegt grds. keine eigenverantwortliche Selbstgefährdung oder -schädigung des Retters vor, wenn die Rettungshandlung auf einer Rechtspflicht oder einer Garantenpflicht beruht. Etwas anderes gilt nur dann, wenn die Rettungshandlung von vorneherein sinnlos und unverhältnismäßig riskant ist (vgl. BGHSt 39, 322, 325 f.).

Stellungnahme

Der dritten Ansicht ist zu folgen. Für sie spricht, dass verpflichtete Retter in ihrer Entscheidung bzgl. der Vornahme einer Rettungshandlung gerade nicht frei sind. Vielmehr ist es ihnen auferlegt, sich in Gefahr zu begeben. Da der Täter als Gefahrenverursacher Auslöser dieser „erzwungenen“ Rettungshandlung ist, hat er grds. auch die Selbstgefährdung oder -schädigung des Retters zu verantworten. Der Retter übernimmt letztlich eine eigentlich dem Gefahrenverursacher obliegende Pflicht. Wenn in diesem Sinne eine erfolgreiche Erfolgsabwendung dem Gefahrenverursacher zugutekommt, dann hat er auch die Konsequenzen eines etwaigen Misserfolgs zu tragen.

Fazit zu den „Retterfällen“ im Strafrecht AT

Bei der rechtlichen Behandlung der „Retterfälle“ handelt es sich um einen Klassiker des Strafrechts, der regelmäßig Gegenstand juristischer Prüfungen ist. Sei es in einer Klausur, Hausarbeit oder mündlichen Prüfung.
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Hendrik Heinze
Geschäftsführer der Assessor Akademie Kraatz und Heinze GbR

 

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