Sperrklausel bei EU

27.03.2024 | von Sander Singer


 

BVerfG, Beschluss vom 06.02.2024 - 2 BvE 6/23, 2 BvR 994/23

Die Entscheidung des BVerfG gibt Anlass, die Aufgaben des Rates der EU (Ministerrat) sowie die verfassungsrechtliche Wertung von Prozenthürden bei Wahlen näher zu untersuchen.

Sachverhalt

Der Satiriker, Journalist und Politiker Martin Sonneborn hat einen Antrag beim BVerfG auf Feststellung der Unzulässigkeit von Sperrklauseln auf EU-Ebene gestellt. Sonneborn ist Vorsitzender von der Partei „Die Partei“ und vertritt diese im Europaparlament. „Die Partei“ ist eine Kleinstpartei und wurde 2019 mit 2,4 % gewählt. Sie hat zwei Abgeordnete im Europaparlament. Eine entsprechende Sperrklausel, wie sie bereits auf Bundesebene (sog. 5 % Hürde) gilt, könnte für seine Partei auf EU-Ebene das Aus bedeuten.
Anlass für den Antrag ist ein Beschluss des Rates der Europäischen Union (auch: Ministerrat) vom 13. Juli 2018, welcher eine Einführung einer Sperrklausel von mindestens zwei, höchstens fünf Prozent für die Europawahl festlegte. Das Verfahren ist in Art. 223 AEUV geregelt. Der hiesige Beschluss sieht die Zustimmung der einzelnen Mitgliedsstaaten vor. Dies ist in Deutschland durch ein Zustimmungsgesetz im Juli 2023 geschehen. Hiergegen wendet sich der Antrag Sonneborns im Wege eines Organstreits sowie einer Verfassungsbeschwerde. Sonneborn rügt in seinem Recht auf Chancengleichheit der politischen Parteien und der Gleichheit der Wahl verletzt zu sein. Die Änderung „überschreite die Kompetenz der Europäischen Union und berühre das in Art. 79 III GG geschützte Demokratieprinzip und damit die Verfassungsidentität der Bundesrepublik Deutschland“. Sie soll einen „Ultra-vires-Akt“ bzw. eine Identitätsverletzung darstellen.

Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts

  1. Die Anträge werden jeweils als unzulässig verworfen.
     
  2. Antragstellerin („Die Partei“, Organstreit) und Beschwerdeführer (Sonneborn, Verfassungsbeschwerde) legen nicht substantiiert dar, inwieweit sie in ihren verfassungsmäßigen Rechten verletzt werden.

In der Klausur

Der Fall gibt Anlass gleich zwei verschieden Themenfelder aufzuarbeiten: die Zusammensetzung, Arbeitsweise und Kompetenz des EU-Organs des „Rates“ (und seine Abgrenzung zum Europäischen Rat und zum Europarat) sowie die verfassungsrechtliche Wertung von Prozenthürden bei Wahlen.

Vorneweg

Vorneweg: ob ein Fall der „ultra-vires“ oder „Identitätsverletzung“ vorliegt, hat das BVerfG nicht entschieden und soll auch nicht zentraler Inhalt dieser Besprechung sein. Sonneborn ist lt. BVerfG seiner (im Rahmen eines solchen Kontrollverfahrens bestehender) Verpflichtung, die konkrete Verletzung der Verfassungsidentität darzulegen, nicht nachgekommen.
Zum einen sei die Kompetenz zur Regelung der Wahl nach Art. 223 I AEUV eindeutig bei der EU, sodass durch den Beschluss des Rates keine Hoheitsrechte Deutschlands auf die EU übertragen werden. Somit kann das Zustimmungsgesetz auch keine Verfassungsverletzung darstellen.
Zum anderen kann schon deshalb keine „Identitätsverletzung“ vorliegen, weil die EU selbst dem Demokratieprinzip verpflichtet ist und Sperrklauseln als Gestaltungsmittel grundsätzlich anerkannt sind.
Eine eingehende Aufarbeitung der „ultra-vires-Kontrolle“ und „Identitätskontrolle“ wird anhand der „Solange I“ und „Solange II“ Rechtsprechung empfohlen.

Rat der EU (Ministerrat)

„Der Rat“, welcher den Beschluss gefällt hat, setzt sich gem. Art. 16 EUV aus je einem Vertreter jedes Mitgliedsstaates auf Ministerebene zusammen (deswegen auch „Ministerrat“).

Aufgaben des Rates

Aufgabe des Rates ist die Abstimmung und Verabschiedung von EU-Rechtsvorschriften gemeinsam mit dem Europäischen Parlament auf Grundlage von Vorschlägen der Kommission, Art. 17 II EUV. Durch die Zusammensetzung aus Landesministern soll sichergestellt werden, dass die Beschlüsse des Rates den Interessen der jeweiligen Länder in den jeweiligen Ressorts entsprechen. Indem sich die jeweiligen „Spezialisten“ zu den Themenbereichen treffen, soll eine einheitliche Koordination auf EU-Ebene erreicht werden. Welcher Minister des Landes im Rat auftritt, ist abhängig von dem Thema, über welches beraten wird. Der Vorsitz wird in einem sechsmonatigen Turnus zwischen den Ministern der Mitgliedsstaaten weitergegeben. Für die Annahme eines Beschlusses ist seit 2014 eine qualifizierte Mehrheit erforderlich (s. dazu Art. 16 IV EUV).

Beschlüsse, Verordnungen und Richtlinien

Die Handlungsform des „Beschlusses“ (konkret an einen Staat oder konkret und an alle) steht auf Sekundärrechtsebene neben Verordnungen, welche einen verbindlichen Rechtsakt mit Umsetzungspflicht in den Mitgliedsstaaten (1:1) postuliert (abstrakt generell) und Richtlinien mit Zielvorgaben und Umsetzungsspielraum im Wege der Transformation in nationales Recht (abstrakt generell).
Beschlüsse gem. Art. 288 AEUV können als legislative Rechtsakte durch Rat oder Parlament gefasst werden oder als exekutive Entscheidung im Wege eines Durchführungsrechtsaktes oder der delegierten Rechtssetzung durch die Kommission.
Verordnungen können durch die Kommission direkt (sog. Durchführungsverordnung, Art. 291 I AEUV oder als delegierte Rechtssetzung) oder durch Rat bzw. Parlament (Gesetzgebungsakt) erlassen werden.
Richtlinien stellen Gesetzgebungsakte dar und werden daher entweder durch den Rat oder durch das Parlament erlassen.

Der Europäische Rat

Der Europäische Rat gem. Art. 15 AEUV setzt sich aus den jeweiligen Regierungschefs der Mitgliedsstaaten zusammen und hat die Aufgabe, die allgemeinen politischen Zielvorstellungen und Prioritäten der EU festzulegen. Er wird NICHT legislativ tätig, sondern macht Vorschläge an die Kommission und formuliert Leitlinien für den Rat.
Der Europarat ist KEIN Organ der EU. Er wurde 1949 zum Schutz der Menschenrechte und zur Völkerverständigung gegründet. Ihm gehören 46 Staaten an. Ihm ist auch der EGMR zuzuordnen.

BVerfG: Sperrklausel bei Wahlen

Prozenthürden haben das BVerfG auch auf nationaler Ebene schon beschäftigt (5 % Hürde). Die wesentliche Erwägung ist hierbei, dass die Funktionsfähigkeit des Parlaments gewahrt bleiben soll. Würden Kleinstparteien Einzug in den Bundestag halten können, würde dies aufgrund der parlamentarischen Rechte eines jeden Abgeordneten, u.a. Frage- und Antragsrecht, zu einer Lähmung der Arbeit durch Anliegen, die nur einen Bruchteil der Bevölkerung betreffen, führen.
Besondere Beachtung findet der Beschluss dennoch aus dem Umstand, dass das BVerfG im Jahr 2011 (5 %) und 2014 (3 %) jeweils eine Prozenthürde als verfassungswidrig angesehen hat. Der kleine, aber feine Unterschied liegt darin, dass die beiden Urteile gegen nationale Gesetze ergangen sind, welche die Beschränkung nur in Deutschland eingeführt hätten. Die EU hatte zu diesem Zeitpunkt keine solche Regelung für alle Mitgliedsstaaten vorgesehen. Das BVerfG hatte die Klauseln aus der Erwägung als verfassungswidrig erklärt, die im Umkehrschluss auch für die nationale Sperrklausel gilt: die Funktionsfähigkeit des EU-Parlaments werde durch die Wahl von Kleinstparteien nicht hinreichend gefährdet. Als Reaktion auf diese Urteile hatte Deutschland 2018 auf EU-Ebene die Einführung der Sperrklauseln angeregt und hatte hiermit Erfolg. Der durch den Rat ergangene Beschluss ist Ausfluss der Einschätzungsprärogative des Europaorgans in Art. 223 AEUV und somit durch das BVerfG nicht überprüfbar. 

Fazit zum Rat der EU und den Sperrklauseln

Grundkenntnisse des Aufbaus der Europäischen Union sollten im Ersten Staatsexamen vorhanden sein.
Die Wahlrechtsgrundsätze, zu denen auch die Frage nach der Zulässigkeit von Sperrklauseln gehört, sind in beliebtes Thema in jeder Klausur aus dem Staatsorganisationsrecht.
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Relevante Lerninhalte

  • Aufgaben und Funktionen des Rates der EU
  • BVerfG Rechtsprechung zu Prozenthürden bei Wahlen

Relevante Rechtsprechung

BVerfG, Beschluss vom 06.02.2024 – 2 BvE 6/23, 2 BvR 994/23
 


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