Thüringer Verfassungsgerichtshof: AfD Fraktion unterliegt mit Eilantrag

30.12.2024 | von Sander Singer

Thüringer VerfGH, Beschluss vom 27.09.2024 – VerfGH 36/24

Nach der chaotischen ersten Sitzung im Erfurter Landtag hat der Thüringer VerfGH klargestellt: Der AfD-Alterspräsident muss Anträge der anderen Fraktionen zulassen. Sehen wir uns zu diesem aktuellen Fall einmal den zugrundeliegenden Sachverhalt näher an.

Sachverhalt

Die bisherige Fassung der Geschäftsordnung (GO) des Thüringer Landtages lautet wie folgt:

§ 2 Wahl der Präsidentin bzw. des Präsidenten und der Stellvertreterinnen bzw. Stellvertreter
  1. […]
  2. Die stärkste Fraktion schlägt ein Mitglied des Landtags für die Wahl zur Präsidentin beziehungsweise zum Präsidenten vor. Die anderen Fraktionen schlagen jeweils ein Mitglied des Landtags für die Wahl zur Vizepräsidentin beziehungsweise zum Vizepräsidenten vor, sodass jede Fraktion im Vorstand des Landtags mit einem Mitglied vertreten ist.

Am 19. September 2024 reichte die Antragstellerin einen Antrag auf Änderung der Geschäftsordnung des Thüringer Landtages ein (LTDrucks 8/7). Der Änderungsantrag lautet wie folgt:

„Die Geschäftsordnung des Thüringer Landtags […] wie folgt geändert:

§ 2 wird wie folgt geändert:
a) Absatz 1 erhält folgende Fassung:
"(1) Der Landtag wählt aus seiner Mitte die Präsidentin beziehungsweise den Präsidenten für die Dauer der Wahlperiode. Die Wahl wird ohne Aussprache und geheim durchgeführt. Gewählt ist, wer die Mehrheit der abgegebenen gültigen Stimmen erhält.[…]“

Die Einladung der Mitglieder des Landtags zur konstitutiven Sitzung des 8. Thüringer Landtags lautet in den ersten fünf Tagesordnungspunkten auszugsweise wie folgt:

1. Eröffnung durch die Alterspräsidentin bzw. den Alterspräsidenten
2. Ernennung von vorläufigen Schriftführerinnen beziehungsweise Schriftführern
3. Aufruf der Namen der Abgeordneten und Feststellung der Beschlussfähigkeit
4. Änderung der Geschäftsordnung des Thüringer Landtags, Antrag der Fraktionen der CDU und des BSW – Drucksache 8/7 –
5. Wahl der Präsidentin beziehungsweise des Präsidenten des Landtags, Wahlvorschlag der
Fraktion der AfD […]

Der Antragsgegner eröffnete die Sitzung des 8. Thüringer Landtages, stellte die Anzahl der Fraktionsmitglieder fest und nannte die Namen der Fraktionsvorsitzenden sowie der parlamentarischen Geschäftsführer. Im Anschluss bat der Antragsteller den Antragsgegner, die Beschlussfähigkeit des 8. Thüringer Landtages festzustellen. Der Antragsgegner kam dem nicht nach.
Im weiteren Verlauf unterbrach der Antragsgegner mehrfach die Sitzung, ohne dem Antrag des Antragstellers nachzukommen. Nachdem die Fraktionen Gelegenheit zur Äußerung erhalten hatten, teilte der Antragsgegner mit, dass er sich der von der Fraktion der AfD geäußerten Rechtsauffassung anschließt. Dem Thüringer Landtag sei es so lange verwehrt, über die Ausgestaltung der Tagesordnung abzustimmen, bis die Wahl des Landtagspräsidenten abgeschlossen sei.
Der Antragsteller kündigte hierauf an, den Erlass einer einstweiligen Anordnung beim Thüringer Verfassungsgerichtshof zu beantragen. Der Antragsgegner unterbrach die Sitzung mit der Ankündigung, diese am 28. September 2024 fortzusetzen.
Der Antragsteller macht geltend, dass der Landtag nach Art. 57 V ThürVerf sowohl das Recht als auch die Pflicht hat, sich eine Geschäftsordnung zu geben. Dies umfasse auch die konkrete Ablaufplanung des Verfahrens. Dieses Recht verletzt der Antragsgegner, indem er sich weigert, entsprechend der Tagesordnung zu verfahren und zunächst über die Änderung der Geschäftsordnung abstimmen zu lassen. Bei der Regel nach dem Geschäftsordnungsgesetz, dass die vorherige Geschäftsordnung zunächst weiter gelte, handele es sich lediglich um ein „Angebot“ an den neuen Landtag. Die Aufgabe des Antragsgegners erschöpft sich darin, bis zur Wahl des Landtagspräsidenten durch die Sitzung in neutraler und unparteiischer Weise zu führen. Dass die bisherige Geschäftsordnung eine andere Form der Wahl des Landtagspräsidenten vorgesehen hat, als dies nach dem neuen Antrag der Fraktion und Antragstellerin vorgesehen ist, verstößt nicht gegen die Verfassung. Nach dieser wird der Landtagspräsident ausdrücklich aus der Mitte des Landtages gewählt. Somit kommt jeder Fraktion ein Vorschlagsrecht zu.
Der Antragsgegner erwidert, dass es bereits am Rechtsschutzbedürfnis fehle. DieAnträge hätten lediglich zu einem späteren Zeitpunkt behandelt werden sollen. Eine endgültige Vereitelung des Rechts, Anträge zu stellen, sei damit nicht eingetreten.

Wesentliche Aussagen des Thüringer Verfassungsgerichtshofs

Die Festlegung der Reihenfolge der Tagesordnung obliegt dem Landtag als Gesamtheit. Der Antrag auf Änderung der Geschäftsordnung ist vor der Wahl des Landtagspräsidenten durchzuführen.

Examensrelevanz der Entscheidung

Der Inhalt dieses Beschlusses wird wohl in den nächsten Jahren Stoff einiger Examensklausuren sein. Wichtig ist, dass die grundlegenden Positionen, also die Autonomie des Landtages zur Bestimmung seiner Tagesordnung und die Neutralität des Alterspräsidenten des Landtages bei der Leitung der konstituierenden Sitzung, auf alle Bundesländer und in abgewandelter Form auch auf die Bundesebene übertragen werden können.
Insofern ist eine vertiefte Auseinandersetzung mit der jeweils eigenen Landesverfassung und den dort geltenden Regeln, insbesondere der Geschäftsordnungen (GO) der Landtage, unabdingbar. Nur so lassen sich die relevanten Normen in der Klausur effizient identifizieren.

Das zentrale Problem des Falls

Das Kernproblem ist simpel: Die AfD ist bei der Landtagswahl die stärkste Kraft geworden. Nach der alten GO hätte ihre Fraktion das Vorschlagsrecht für einen neuen Landtagspräsidenten. Um das zu verhindern, hat der Antragsteller einen Antrag auf Änderung der Geschäftsordnung gestellt. Nach dieser Änderung soll der Präsident nicht mehr von der stärksten Fraktion, sondern aus der Mitte des Landtages vorgeschlagen werden. Der Alterspräsident des Landtages (AfD) wollte, indem zunächst nach altem Recht abgestimmt wird (und die AfD somit den Vorschlag für den Posten machen würde) und erst danach die Geschäftsordnung geändert wird, einen AfD-Vorschlag als Landtagspräsidenten herbeiführen. Das wollten die anderen Fraktionen verhindern.

Exkurs: Die einstweilige Anordnung nach § 32 BVerfGG

In der Klausur wird eine einstweilige Anordnung auf Bundesebene vor dem Bundesverfassungsgericht über § 32 BVerfGG abgehandelt.
Wichtig: Anders als der „klassische“ Antrag, der eine nachhaltige Beilegung des streitigen Sachverhaltes bezwecken soll, handelt es sich bei der einstweiligen Anordnung um vorläufigen Rechtsschutz.
Deswegen erfolgt auch keine klassische Prüfung, sondern vielmehr eine Folgenabwägung. Verglichen wird zwischen den Auswirkungen, wenn dem Antrag stattgegeben und denen, wenn der Antrag abgelehnt wird. Das Rechtsschutzbedürfnis ist insofern zwar durch eine Vorwegnahme der Hauptsache eingeschränkt, allerdings hätte eine Unzulässigkeit des Antrages weitreichende Folgen, die in der Hauptsache nicht mehr bewältigt werden könnten (Gebot des effektiven Rechtsschutzes, Art. 19 IV GG). Im Einzelfall kann daher eine Vorwegnahme der Hauptsache erlaubt sein.

Exkurs: Prüfungsschema für das Verfahren nach § 32 BVerfGG

Das Schema für § 32 BVerfGG (und jedem einstweiligen Rechtsschutz auf Landesebene vor dem Landesverfassungsgericht(shof) entsprechend der Landesverfassung) lautet wie folgt:

Zurück zum Fall: Entscheidung des Landesverfassungsgerichts

Das Landesverfassungsgericht hat sich hier der Auffassung des Antragstellers angeschlossen. Dem Landtag komme eine umfassende Berechtigung zur Festlegung der Tagesordnung und deren Reihenfolge zu. Auch der Vorschlag zur Änderung der Geschäftsordnung für die Wahl des Landtagspräsidenten begegnet, laut dem Verfassungsgericht, keinen Bedenken.

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Der Fall ist zugegeben nicht einfach. Auch ist das Verfahren nach § 32 BVerfGG, welches sich im Examen als Einkleidung des Falls anbietet, vielen Studenten nicht geläufig.
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