Tierhalterhaftung (§ 833 BGB) und § 840 III BGB analog

29.11.2024 | von Sander Singer

LG Köln, Urteil vom 10.07.2024 - 2 O 207/23

Die Prüfungsämter lieben Tiere. Katzen, Hunde und Pferde sind ständiger Gegenstand von Klausuren in beiden Examina. Besonders beliebt ist neben der Sachmangelgewährleistung beim Tierkauf die sog. Tierhalterhaftung gem. § 833 BGB. Begriff wie die spezifische Tiergefahr sollten jedem Examenskandidaten geläufig sein. Vorliegend geht es um die analoge Anwendung des § 840 III BGB im Kontext des § 833 BGB.

Sachverhalt

Die Klägerin ist Halterin eines Hundes namens „Atlas“ (Namen jeweils geändert), die Beklagte ist Halterin eines Hundes „Flynn“. Gemeinsam hatten sie schon mehrmals Wegstrecken mit diesen beiden zurückgelegt. Am Unfalltag spazierten die Parteien mit ihren Hunden auf einem Weg in Leverkusen, der eine wechselnde Breite von maximal einem Meter hat, nicht gerade verläuft und auf beiden Seiten von Sträuchern und Bäumen gesäumt ist. Die Beklagte lief dabei unmittelbar vor der Klägerin. Die Hunde, beide nicht angeleint, befanden sich zunächst vor den Parteien und liefen frei herum. Sodann kehrte „Atlas“ zurück und lief an den Parteien vorbei. Etwas später kam auch „Flynn“ zurück, rannte auf die Beklagte zu, die einen Schritt zur Seite machte. „Flynn“ lief sodann weiter und prallte mit hoher Geschwindigkeit gegen das linke Bein der Klägerin, die sich hierbei eine Tibiakopffraktur zuzog und „Flynn“ nicht kommen sah.
Mit ihrer Klage fordert die Klägerin von der Beklagten im Wesentlichen ein Schmerzensgeld nicht unter 5.000 € sowie Ersatz für ihren Ausfall in der Haushaltsführung (sog. Haushaltsführungsschaden). Dies stützt sie insbesondere darauf, dass zwischen der Rückkehr von „Atlas“ und der von „Flynn“ 40 Sekunden oder eine Minute gelegen hätten. Zu diesem Zeitpunkt hätten sich die Hunde nicht in einem gemeinsamen Spiel befunden. Der Abstand der beiden Hunde habe gut 20 Meter betragen. Sie habe „Flynn“ deshalb nicht kommen sehen, da die Beklagte ihr die Sicht verdeckt habe.
Die Beklagte stellt sich vornehmlich auf den Standpunkt, beide Hunde hätten miteinander gespielt. Im Zeitpunkt des Unfalls habe sich „Flynn“ in der Verfolgung von „Atlas“ befunden. Sie ist der Ansicht, es habe sich neben der Tiergefahr beider Hunde auch ein Mitverschulden der Klägerin verwirklicht. Da beide Hunde unstreitig abgeleint waren, hätten sie erhöhter Aufmerksamkeit bedurft. Sie behauptet, aus vorangegangenen Spaziergängen sei der Klägerin bekannt gewesen, dass der eine Hund stets dem anderen folgt.
(zit. Pressemitteilung LG Köln, 30.08.2024)

Bedeutung für die Jura Klausur

Die Gefährdungshaftung im Deliktsrecht

Die Tierhalterhaftung als verschuldensunabhängige Haftung (sog. Gefährdungshaftung) ist ein beliebtes Klausurthema. Sie ermöglicht, das dogmatische Grundverständnis im Deliktsrecht in der Abgrenzung von Verschuldens- und Nichtverschuldenshaftung (Gefährdungshaftung) abzuprüfen. Ersteres ist dabei gegenüber Letzterem subsidiär zu prüfen: Die Gefährdungshaftungstatbestände erfordern keinen Nachweis von widerrechtlichem oder schuldhaftem Handeln des Beklagten und sind somit rechtsschutzintensiver für den Kläger. Dieser muss weniger Beweise erbringen, um einen Anspruch zugesprochen zu bekommen.
Das Telos der Gefährdungshaftung ist - neben dem Schutz von Rechtsgütern - genau wie allgemein im Deliktsrecht, dass die Person für eine Gefahr haften soll. Die Gefährdungshaftung rührt aus einem Umstand her, den sich der Schädiger zunutze macht.
Beispiel: Wer Halter eines Autos ist, schafft allein durch das Auto an sich bereits eine gesteigerte Gefahr für die Allgemeinheit (Gefährdungshaftung aus § 7 I StVG). Wer einen Hund hält, schafft hierdurch das Risiko, dass der Hund andere Personen verletzt (§ 833 S. 1 BGB). Wer ein Produkt in den Umlauf bringt, eröffnet die Gefahr, dass bei Fehlern des Produktes oder der Herstellung des Produktes Schäden bei der Allgemeinheit auftreten (§ 1 I ProdHaftG).

Prüfungsaufbau in Deiner Klausur

I. Anspruch aus § 833 S. 1 BGB
1. Haftungsgrund
a) Rechtsgutsverletzung
Eine Rechtsgutsverletzung (wie bei § 823 I BGB) in Form einer Körper- und Gesundheitsschädigung liegt vor.
b) Tierhalter als Anspruchsgegner
Die Beklagte müsste zunächst Tierhalterin sein, § 833 S. 1 BGB. Halter ist, wer das Tier im eigenen Interesse besitzt; auf Eigentum kommt es nicht an. Dies ist hier mangels anderer Angaben im Sachverhalt der Fall.
c) Durch ein Tier
aa) Kausalität
Das Umrennen durch den Hund war kausal für die Rechtsgutsverletzung.
bb) Spezifische Tiergefahr
Die spezifische Tiergefahr liegt in der Unberechenbarkeit des tierischen Verhaltens ohne steuernden Einfluss eines Menschen. Dass der Hund losrannte, stellt sich als normales, tierisches Verhalten dar. Es handelt sich um eine spezifische Tiergefahr.
d) Keine Exkulpation
Möglicherweise gelingt der Beklagten bereits eine Exkulpation von dem Anspruch aus § 833 S. 1 BGB über § 833 S. 2 BGB, wenn es sich bei dem Hund um ein Haustier handelt. Haustiere sind Nutztiere, die dem Beruf, Erwerb oder Unterhalt dienen. Der Hund dient indessen keinem der in § 833 S. 1 BGB genannten Zweck, ist somit ein Luxustier. Die Beklagte muss in vollem Umfang für die Gefahren einstehen.
e) Kein Haftungsausschluss
Die Haftung aus § 833 S. 1 BGB könnte wegen eines tatbestandsausschließenden Einverständnisses bzw. eines stillschweigenden Haftungsausschlusses zwischen den Beteiligten ausgeschlossen sein. Die Klägerin und Beklagte sind gemeinsam mit ihren Hunden unterwegs gewesen, sodass nahe liegt, dass sie mit den hiermit verbundenen Risiken zumindest konkludent einverstanden waren. Dagegen spricht allerdings, dass die Klägerin gerade keine umfängliche Einwirkungsmöglichkeit auf das Verhalten des Hundes der Beklagten hatte und somit keine Steuerung zu ihren Gunsten vornehmen konnte. Somit scheidet ein solcher Haftungsausschluss aus.
2. Haftungsumfang
Der Umfang des Schadensersatzes bestimmt sich nach §§ 249 ff. BGB.
Der kausal auf das Umrennen zurückzuführende Schaden liegt in der Fraktur des Knochens und den daraus resultierenden Schmerzen. Zudem fällt die Klägerin im Haushalt aus.
Die Schmerzen sind grundsätzlich nach § 253 II BGB ersatzfähig im Wege des Schmerzensgeldes. Der Haushaltsführungsschaden ist über § 845 S. 1 BGB ersatzfähig.
a) Anspruchskürzung nach § 254 I BGB analog
Allerdings könnte der Anspruch der Klägerin nach § 254 I BGB analog, aufgrund der Zurechnung der tierspezifischen Gefahr ihres eigenen Hundes, zu kürzen sein. Dies ergibt sich hier aus der Mitwirkung des eigenen Tieres an der Entstehung des Schadens: Der Hund der Klägerin hat selbst eine tierspezifische Gefahr realisiert und ist an den Parteien vorbeigerannt. Nach Ansicht des Gerichtes war dies ausschlaggebend dafür, dass der Hund der Beklagten folgte. Grundsätzlich ist der Anspruch also quotenmäßig zu kürzen.
b) Anspruchskürzung nach § 840 III analog
Allerdings könnte die Vorschrift des § 840 III BGB in analoger Anwendung eine Anspruchskürzung auf null bedeuten.
Nach Rechtsprechung des BGH findet der Rechtsgedanke des § 840 III BGB analoge Anwendung in Situationen, in denen den Kläger ein „Verschulden gegen sich selbst“ trifft. Der „Dritte“ im Sinne der Norm ist dann der Kläger selbst. Die Klägerin haftet hier bereits deshalb aus Verschulden gegen sich selbst, weil sie hätte absehen müssen, dass der Hund der Beklagten unmittelbar auf ihren Hund folgen würde. Indem sie keine Ausschau hielt und in der Folge umgerannt wurde, trifft sie Verschulden gegen sich selbst. Die Wertung des § 840 III BGB ist, dass primär der haftet, dem ein Verschulden angelastet werden kann und nur sekundär derjenige haftet, der aus Gefährdung haftet (beachte den Unterschied: prüft man nur eine Person, ist die Verschuldenshaftung subsidiär, siehe oben. Prüft man zwei Schädiger in Relativität zueinander, stellt § 840 III BGB klar, dass bei Bestand eines Anspruches aus Verschulden und eines Anspruches aus Gefährdung, ersterer werthaltiger ist).
Insofern ist der Anspruch auf null reduziert. Die Klägerin steht sich selbst wegen des Verschuldens „wie eine Dritte“ gegenüber, § 840 III BGB analog.
3. Ergebnis
Die Klägerin hat keinen Anspruch aus § 833 S. 1 BGB.
II. Anspruch aus § 823 I BGB
Grundsätzlich muss zur Prüfung des § 823 I BGB in solchen Fällen gesagt werden, dass die tierspezifische Gefahr hier keine Berücksichtigung findet (logisch, hier geht es ja jetzt um Verschulden). Daher kann u.U., auch nach Ablehnung eines Anspruchs aus § 833 S. 1 BGB, wegen der Realisation der eigenen tierspezifischen Gefahr aus § 254 I BGB analog, noch ein Anspruch aus § 823 I BGB durchgehen. Relevant ist ausschließlich, ob der Beklagten in diesem Fall ein Verschuldensvorwurf gemacht werden kann.
Allerdings muss wiederum die Wertung des § 840 III BGB beachtet werden: Trifft die Beklagte ein Verschulden aus § 823 I BGB und haftet diese somit auch aus Verschulden, ist ein Ausschluss der Haftung aus § 833 S. 1 BGB wegen § 840 III BGB (so wie in unserem Fall) nicht möglich. Der Beklagte und der Kläger würden beide aus Verschulden haften, sodass die reine Gefährdungshaftung des Beklagten aus § 833 S. 1 BGB nicht nach der Wertung des § 840 III BGB hinter die Verschuldenshaftung des Klägers zurücktritt (wie in unserem Fall).
Allerdings hat das LG Köln in dem hiesigen Urteil angenommen, dass die Beklagte kein Verschulden i.S.d. § 823 I BGB trifft. Insbesondere war die Beklagte nicht verpflichtet, sich aufzuopfern und sich ihrem Hund in den Weg zu stellen, damit dieser nicht die Klägerin umrennt. Sie trifft keine Garantenpflicht. Die einzige Verschuldenshaftung liegt somit weiterhin bei der Klägerin selbst (Verschulden gegen sich selbst).

Generelle Empfehlungen zum Vorgehen in der Klausur

Wenn ein Fall der Tierhalterhaftung in der Klausur auftaucht, ist eine Sachverhaltsskizze Gold wert: zeichnet man sich auf, wer gegenüber wem Verschulden trägt und wer welche Gefahr trägt, fällt die Lösung gleich viel leichter.
Im Hinblick auf die Prüfungsreihenfolge bleibt es bei dem eingangs Gesagten: zunächst ist die Gefährdungshaftung und erst dann die Verschuldenshaftung zu prüfen. Im Rahmen der Gefährdungshaftung muss dann im Rahmen des haftungsausfüllenden Tatbestandes zunächst eine Anrechnung der tierspezifischen Gefahr nach § 254 I BGB analog geprüft werden. Dann ist ein Ausschluss der Haftung aus § 840 III BGB analog zu thematisieren. Liegt der Fall so, dass den Schädiger möglicherweise neben dem Geschädigten Verschulden trifft, ist die Prüfung mit dem Hinweis auf eine abschließende Aussage hinsichtlich der Quoten am Ende der Prüfung auf die Prüfung des § 823 I BGB überzuleiten. Hier spielt die tierspezifische Gefahr wiederum keine Rolle und kann den Anspruch nicht mindern. Zuletzt muss dann festgelegt werden, ob wegen eines angenommenen oder abgelehnten Anspruches aus § 823 I BGB gegen den Schädiger ein Anspruch aus § 833 S. 1 BGB weiterhin besteht oder nicht.

Einordnung des Urteils für das Jurastudium & Examen

Die Entscheidung kann ohne Weiteres Grundlage einer Examensklausur im 1. oder 2. Staatsexamen werden. Die Tierhalterhaftung ist – wie gesagt – ein Dauerrenner in beiden Examina. Gegenstand derartiger Examensklausuren sind dann häufig aktuelle Urteile wie das soeben besprochene.
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Relevante Lerninhalte

  • Tierhalterhaftung gem. § 833 BGB
  • Anspruchskürzung nach § 840 III BGB analog

Relevante Rechtsprechung

  • LG Köln, Urteil vom 10.07.2024 - 2 O 207/23


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