VG Potsdam hebt Einreiseverbot gegen Martin Sellner auf

27.06.2024 | von Sander Singer

VG Potsdam, Beschluss vom 31.05.2024 – 3 L 237/24

Die Entscheidung VG Potsdam, Beschluss vom 31.05.2024 – 3 L 237/24 kombiniert das examensrelevante Verfahren nach § 80 V VwGO mit nicht minder wichtigen Fragen des Gefahrenabwehrrechts.

Sachverhalt

Der Österreicher Martin Sellner (S) ist seit langer Zeit führender Kopf der rechtsextremen „Identitären Bewegung“. Er vertritt die Theorie des „Ethnopluralismus“, nach welcher Staaten ethnisch und kulturell homogen sein sollten.
Am 25.11.2023 nimmt S an dem „Potsdamer Treffen“ teil. Das Treffen stellte eine Zusammenkunft verschiedener rechter Politiker (insbesondere der AfD), Funktionäre und Unternehmer dar und wurde durch eine Recherche des Mediums „Correctiv“ aufgedeckt.
Auf dem Treffen stellte S seinen Masterplan zur „Remigration“ von Menschengruppen vor, welche nach seiner Theorie des Ethnopluralismus nicht in den europäischen bzw. deutschsprachigen Raum passen und in ihre Herkunftsländer zurückgeführt werden sollen.
Die Stadt Potsdam reagierte auf diesen Sachverhalt, indem sie S die Einreise nach Deutschland gem. § 6 I S. 1 FreizügG/EU für eine Dauer von drei Jahren versagte. Hiergegen wendet sich S im Wege eines Eilverfahrens vor dem VG Potsdam.
Ist das zulässige Eilverfahren begründet?

Wesentliche Aussagen des Gerichts

1.     Der Eilantrag nach § 80 V S. 1 Alt. 2 VwGO ist begründet.
2.     Der in § 6 I S. 1 FreizügG/EU veranlagte Begriff der „Gefahr“ ist enger als derjenige des allgemeinen Polizei- und Ordnungsrechts. Er unterliegt damit höheren Anforderungen.
3.     Die Begründung der Stadt Potsdam trägt einen Eingriff solcher Schwere nicht hinreichend. Es wären weniger eingriffsintensive Mittel in Betracht gekommen, sodass das dreijährige Verbot ermessensfehlerhaft ist.

Bedeutung für die Klausur

Das Verwaltungsgericht lässt in seiner summarischen Prüfung der Hauptsache (in der Klausur verwenden Sie diesen Begriff ebenso, führen aber bitte eine vollständige Prüfung der Hauptsache durch!) offen, ob die Stadt Potsdam überhaupt zuständig ist, einen solchen Bescheid gegenüber S zu erlassen.
Dies ist deshalb nicht entscheidungsrelevant, weil es sich zum einen um einen formellen Fehler handeln würde (der noch unter Umständen im Rahmen der Heilung korrigiert werden könnte) und der Antrag zum anderen bereits aus materiellen Gründen Erfolg hat
Anmerkung: Hier sehen Sie den deutlichen Unterschied zwischen dem Urteilsstil und dem Gutachtenstil. Das Gericht kann bereits eingangs sagen, dass es den Antrag aus materiellen Gesichtspunkten für begründet hält und prüft deswegen andere Aspekte nicht mehr. Dieses Vorgehen ist Ihnen im Gutachtenstil verwehrt!

Gefahrenbegriff des § 6 I S. 1 FreizügG/EU

Die materielle Prüfung stellt auf § 6 I S. 1 FreizügG/EU  ab (lesen!). Hier wird für den Verlust der Freizügigkeit tatbestandlich eine Gefahr für die öffentliche Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit vorausgesetzt:
Die europäische Freizügigkeit als solche wird in verschiedenen Gesetzen aufgegriffen (Schutzbereich). Diese sind jeweils in der Auslegung des FreizügG/EU heranzuziehen: Art. 45 I AEUV (beachte Abs. 3), Art. 27 FreizügRL, Art. 20 Abs. 2a) AEUV, Art. 21 AEUV und Art. 45 GRCh.
Hiernach ist der Gefahrenbegriff enger auszulegen, als er es im nationalen Polizei- und Ordnungsrecht ist.
Die Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung im deutschen Recht ist bereits verwirklicht, wenn mit hinreichender Wahrscheinlichkeit überhaupt gegen ein Gesetz verstoßen werden wird. Dagegen reicht es laut dem VG unter Berufung auf die ständige Rechtsprechung des EuGH nicht aus, wenn einfache Gesetzesverstöße antizipiert werden. Vielmehr müssen solche wahrscheinlich sein, die ein „Grundinteresse der Gesellschaft berühren“.
Zwar ist S in der Vergangenheit mehrfach wegen Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen (§ 86a StGB), Volksverhetzung (§ 130 StGB), Körperverletzung (§ 223 StGB), Geldwäsche (§ 261 StGB), Verstoßes gegen das Versammlungsgesetz (§ 26 VersammlG), wegen Gewaltdarstellung (§ 131 StGB) und Nötigung (§ 240 StGB) angeklagt worden, jedoch sind alle diese Verfahren eingestellt worden. Die Stadt hat nicht ausreichend dargelegt, warum es in Zukunft tatsächlich zu einem strafbaren Verhalten kommen sollte.
Die Argumentation der Stadt, dass S die „unverrückbaren staatlichen Grundlagen der Bundesrepublik verändern woll[e]“, „mit [seinen] Aktivitäten zugrundeliegenden Ethnopluralismus die Garantie der Menschenwürde und das Staatsvolkverständnis des Grundgesetz verletz[t]“, „Prinzipien verfolge, die undemokratisch und damit rechtsstaatswidrig sind", „die historische Verpflichtung Deutschlands für den Holocaust als Grundlage unserer Staatsanwesen negier[t]" und „das friedliche Zusammenleben der Völker durch die von [ihm] praktizierte und von [ihm] angestrebte Zusammenarbeit extremistischer Netzwerke gefährde[t]“, überzeugen das VG nicht, den Tatbestand des § 6 I S. 1 FreizügG/EU als erfüllt anzusehen.
Der Umstand, dass jeder Unionsstaat selbst bestimmt, was die Grenzen seines Strafrechts sind, führt dazu, dass jeder Staat bei dem Entzug der Freizügigkeit nur solche Aspekte berücksichtigen darf, welche über die Grenzen hinaus als Unrecht verstanden werden. Eine harte Grenze zieht das VG allerdings dann, wenn S Mitglied einer terroristischen Vereinigung ist oder war, was jedoch nicht der Fall ist.

Gleichbehandlungsgrundsatz

Das Gericht führt weiter aus, dass im Hinblick auf den Gleichbehandlungsgrundsatz aller EU-Bürger eine vergleichbare Behandlung von Deutschen nötig ist. Laut dem VG ist nicht ersichtlich, dass Deutschen bei einem entsprechenden Verhalten z.B. Maßnahmen nach Art. 18 GG zu Lasten fallen. Eine Beobachtung Deutscher durch den Verfassungsschutz bei einer entsprechenden Betätigung stelle noch keinen Eingriff an sich dar, weil hieraus noch keine Maßnahmen gegen die Person abgeleitet werden können. Einem deutschen Straftäter aufgelegte Sanktionen sind nicht vergleichbar. Der S ist (bisher) gerade nicht strafrechtlich sanktioniert worden.

Ermessensfehler

Der Ermessensfehler der Stadt liegt nach Ansicht des Gerichtes darin, dass es nach § 6 I S. 1 FreizügG/EU möglich ist, als milderes Mittel anlassbezogene Einreiseverbote im Einzelfall auszusprechen, sodass ein pauschales Verbot unverhältnismäßig ist.
Hinweis: Der Beschluss des VG knüpft an eine ähnliche Entscheidung an, die der gleichen Argumentation folgt (VG Potsdam, Beschluss vom 14.5.2024 – 3 L 379/24).

Fazit

Der in die bekannte Form des Eilantrages (§ 80 V VwGO) gegossene Fall eignet sich wunderbar für eine Examensklausur. Neben dem Umstand, dass europarechtliche Wertungen zu beachten sind (Freizügigkeit auf EU-Ebene), muss mit einer unbekannten Norm umgegangen werden.
Der Sachverhalt der Examensklausur würde entsprechende Hinweise enthalten, welche die engere Auslegung des Gefahrbegriffs bei § 6 I S.1 FreizügG/EU begründen können.
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Relevante Lerninhalte

  • Eilantrag nach § 80 V VwGO
  • Gefahrenbegriff im Polizei- und Ordnungsrecht
  • Auslegung einer unbekannten öffentlich-rechtlichen Norm aus dem besonderen Gefahrenabwehrrecht

Relevante Rechtsprechung

VG Potsdam, Beschluss vom 31.05.2024 – 3 L 237/24
VG Potsdam, Beschluss vom 14.5.2024 – 3 L 379/24
 


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