BVerfG: Wahlrechtsreform der Ampel auf dem Prüfstand

30.08.2024 | von Sander Singer

BVerfG, Urteil vom 30.07.2024 – 2 BvF 1/23, 2 BvF 3/23, 2 BvE 2/23, 2 BvE 10/23, 2 BvR 1523/23, 2 BvR 1547/23

Ein Hinweis vorweg: Die vielen Aktenzeichen des Urteils sind die verschiedenen Parteien, die sich an das BVerfG gewandt haben.
Man sollte für gewöhnlich vorsichtig sein, wenn es heißt: „Dieses Urteil kommt garantiert im Examen dran.“ Für das langersehnte Urteil des BVerfG zur Wahlrechtsreform der Ampel-Koalition kann man sich jedoch getrost aus dem Fenster lehnen – zumal das Wahlrecht ohnehin ein sehr beliebtes Prüfungsthema aus dem Staatsorganisationsrecht ist.

Sachverhalt

Die Ampel-Fraktionen (Grüne, FDP und SPD) haben im Jahr 2023 das Wahlrecht reformiert. Zentrales Anliegen der Reform war die Funktionsfähigkeit des Bundestages zu stärken, indem dieser verkleinert werden sollte. Hierzu wurden u.a. folgende Änderungen in das BWG aufgenommen:
§ 6 III BWG aF wird in § 4 BWG nF wie folgt aufgenommen:
(1) …
(2) Zwischen den Parteien werden die Sitze im Verhältnis der Zahl der Zweitstimmen, die im Wahlgebiet für die Landeslisten der Partei abgegeben wurden, nach § 5 verteilt (Oberverteilung). Nicht berücksichtigt werden dabei
1. die Zweitstimmen derjenigen Wähler, die ihre Erststimme für einen Bewerber abgegeben haben, der gemäß § 6 Absatz 2 erfolgreich ist, und
2. Parteien, die weniger als 5 Prozent der im Wahlgebiet abgegebenen gültigen Zweitstimmen erhalten haben.
Satz 2 Nummer 2 findet keine Anwendung auf Listen, die von Parteien nationaler Minderheiten eingereicht wurden.
Durch die Änderung wird die sog. „Grundmandatsklausel“ abgeschafft. Hierdurch konnten zuletzt auch Parteien in den Bundestag einziehen, wenn sie zwar bundesweit die fünf-Prozent-Hürde (Sperrklausel) unterschritten hatten, in drei oder mehr Wahlkreisen aber ein Direktmandat über die Erststimme errungen hatten.
Die Linke sowie die CSU sehen eine Verletzung ihrer Rechte aus Art. 21 I GG sowie eine Verletzung von Art. 20 I, II GG und Art. 38 I S. 1 GG. Sie behaupten, die Änderung verstoße gegen das Recht auf Chancengleichheit im demokratischen Prozess und gegen die Freiheit der Betätigung als politische Partei. Sie beantragen festzustellen, dass die Abschaffung der Grundmandatsklausel aus § 6 III BWG aF gegen die Verfassung verstößt und die alte Regelung erhalten bleiben muss oder hilfsweise die Sperrklausel anstatt auf Bundesebene auf Landesebene gelten soll.

Wesentliche Aussagen des BVerfG

Die Anträge haben insoweit Erfolg, als dass der neu geschaffene § 4 II S. 2 Nr. 2 BWG mit dem Grundgesetz unvereinbar ist.
Hinweis: Soweit die Anträge auch gegen die in diesem Artikel nicht thematisierten § 1 III, § 6 I, IV S. 1 und 2 BWG nF gerichtet waren, haben sie hingegen keinen Erfolg. Die Zweitstimmendeckung ist verfassungsgemäß.

Historischer Hintergrund der Wahlrechtsreform

Zum besseren Verständnis der Evolution des Wahlrechts bedarf es einer kurzen historischen Einordnung:
Das Wahlrecht als solches wurde bis 2013 kaum verändert. Es sah seit 1949 vor, dass die Wahl des Bundestages über zwei Wahlverfahren stattfinden soll. Zum einen gab es die Wahl von Einzelpersonen im Wahlkreis, zum anderen die Wahl einer Landesliste einer Partei. Die Besetzung der Landesliste erfolgt durch die Partei selbst. Bei der Wahl der Einzelperson im Wahlkreis bestimmt das Mehrheitsprinzip den Gewinner, bei der Landesliste bestimmt das Verhältnis der Stimmen die relative Menge an Sitzen, die diese Liste bekommt (sog. personalisierte Verhältniswahl). Der Bundestag wird zur einen Hälfte aus Gewinnern dieser Einzelpersonen besetzt, zur anderen Hälfte aus Listenplätzen. Überschneidet sich die Einzelperson mit der Liste, weil sie dort ebenso einen Platz hat, bleibt sie dort unberücksichtigt, die übrigen Listenplätze „rücken auf“. Die Regelgröße des Bundestages ist seit 1996 auf 598 Sitze festgelegt. Auch seit 1949 ist die fünf-Prozent-Hürde sowie die Grundmandatsklausel im Wahlrecht verankert. Diese galten zunächst nur auf Landesebene, später dann für das gesamte Bundesgebiet.
Nimmt man diese Ausgangssituation, lässt sich das Problem der Vergrößerung des Bundestages einfacher erklären: Viele kleine Parteien, die entweder knapp über die fünf Prozent kommen oder drei Direktmandate erhalten, nehmen den großen Parteien Zweitstimmen und damit Listenplätze weg. Haben die großen Parteien schließlich mehr Direktmandate als Listenplätze, musste nach altem Wahlrecht ein sog. „Überhangmandat“ geschaffen werden, damit alle Direktmandate trotzdem im Bundestag vertreten waren. Weil dies aber wiederum zu einer Übergewichtung der großen Parteien mit vielen Direktmandaten führt, wurden sog. „Ausgleichsmandate“ eingeführt, die die relative Gewichtung der Parteien nach dem Zweitstimmenanteil im Parlament wieder abbilden sollte.
Mit der Wahlrechtsreform sollte das Problem gleich auf zwei Weisen angegangen werden: Kleine Parteien sollten keine Grundmandatsklausel mehr zur Hilfe erhalten. Hierdurch sollten weniger kleine Parteien in den Bundestag einziehen, die zu einer Disparität der Erst- und Zweitstimmengewichtung führen. Zum anderen wurden die Überhangmandate abgeschafft. Das heißt, wenn eine große Partei neuerdings mehr Direktmandate als Listenplätze bekommt, bleiben die übrigen Direktmandate unberücksichtigt.

Die Grundmandatsklausel in der Klausur

Das BVerfG führt zur Unvereinbarkeit der Abschaffung der Grundmandatsklausel Folgendes aus:
Die Grundmandatsklausel soll, anders als oft behauptet, nicht dazu dienen, einer verfassungsrechtlichen Verpflichtung nachzukommen, regionalen Schwerpunktparteien einen Zugang zum Sitzzuteilungsverfahren zu ermöglichen. Sie ist vielmehr auf die Grundstruktur des Wahlrechts an sich zurückzuführen. Wegen der „eigenartigen“ Gestaltung des Wahlrechts soll eine Wechselwirkung zwischen der Erststimme für einen Direktkandidaten und der dahinterstehenden Partei angenommen werden können. Mit anderen Worten: Wenn eine Einzelperson in einem Wahlkreis die meisten Stimmen erhält, dann wird die Partei, die sie repräsentiert, wohl auch unterstützenswert sein. Hieraus ergibt sich, dass die Grundmandate in der Grundmandatsklausel eine Aufnahme der Partei in den Bundestag rechtfertigen.
Diese Annahme steht spiegelbildlich zur Sperrklausel: Erringt eine Partei fünf Prozent der Stimmen, zieht sie ebenso in den Bundestag ein. Durch das neu eingeführte Prinzip der „Zweitstimmendeckung“ (s.o., jedes Direktmandat muss durch die Zweitstimme gedeckt sein, sonst bleibt es unberücksichtigt), bekommt diese Spiegelbildlichkeit ein noch größeres Gewicht. Nach der Gesetzesbegründung führt die Zweitstimmendeckung „der Wahlkreisrepräsentation […] neue Legitimation zu“.
Wird nun eines der Instrumente abgeschafft, so findet kein „Ausgleich“ der Besonderheiten der Zweistimmenwahl statt. Hieraus ergibt sich eine Verletzung der Wahlgleichheit aus Art. 38 I S. 1 GG.

Art. 38 GG hat höchste Prüfungsrelevanz

Eine Klausur zu den Wahlrechtsgrundsätzen beschränkt sich für gewöhnlich nicht nur auf einen Wahlrechtsgrundsatz bzw. ein Problem, sondern wird vom Prüfungsamt gerne mit zahlreichen Fragen der Wahlrechtsgrundsätze des Art. 38 GG angereichert. Grund genug, diese zu wiederholen!
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Relevante Lerninhalte

  • Wahlrechtsgrundsätze, Art. 38 GG
  • Grundmandatsklausel

Relevante Rechtsprechung

  • BVerfG, Urteil vom 30.07.2024 – 2 BvF 1/23, 2 BvF 3/23, 2 BvE 2/23, 2 BvE 10/23, 2 BvR 1523/23, 2 BvR 1547/23


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