Die Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störungen nach § 20 StGB

25.09.2024 | von Hendrik Heinze

Die Schuldfähigkeit im Strafrecht

Die für ein schuldhaftes Handeln des Täters erforderliche persönliche Vorwerfbarkeit der Straftat wird bei Erwachsenen, also Personen über 21 Jahren, grds. vermutet. Dies lässt sich aus den Normierungen der §§ 19, 20 StGB und der §§ 3, 105, 106 JGG ableiten, wonach die Schuldfähigkeit bei Erwachsenen die Regel, die Schuldunfähigkeit hingegen die Ausnahme ist (vgl. Leipziger Kommentar – Verrel / Linke / Koranyi, § 20 StGB Rn. 1 ff.).
Hinweis: Ohne besondere Anhaltspunkte im Sachverhalt muss man daher in der Klausur nicht auf die Schuldfähigkeit des Täters eingehen.

Die Schuldunfähigkeit nach § 20 StGB

Nach § 20 StGB ist wegen seelischer Störungen schuldunfähig, wer bei Begehung der Tat aus einem der in der Norm genannten 4 Gründe unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln. Einsichtsfähigkeit bedeutet, dass der Täter das Unrecht seiner Tat einsehen kann. Die Fähigkeit, dann im konkreten Fall auch nach dieser Einsicht zu handeln, wird als Steuerungsfähigkeit bezeichnet, vgl. § 17, § 20 StGB. 
Im Folgenden wollen wir uns zunächst die 4 Fallgruppen des § 20 StGB ansehen, bevor ich näher auf die konkrete Bestimmung der für die Klausur relevanten Alkoholgrenzwerte eingehe.

1. Krankhafte seelische Störung

Krankhafte seelische Störungen umfassen endogene Psychosen, die körperlich nicht eindeutig begründbar sind (z.B. psychiatrische Krankheiten wie Schizophrenie und manisch-depressives Verhalten), und exogene Psychosen, die körperlich eindeutig begründbar sind (Fischer, § 20 StGB Rn. 8 ff.).
Exogene Psychosen umfassen Alzheimererkrankungen und den (organischen) Hirnabbau infolge von Alkohol-, Drogen- oder Medikamentenmissbrauch. 
Auch der (vorübergehende) Alkohol- und Drogenrausch als akute Intoxikationspsychose (vorübergehende Beeinträchtigung der Hirntätigkeit) ist nach zutreffender Ansicht ein Anwendungsfall (Fischer, § 20 StGB Rn. 10 f.).
Hinweis: Die Einordnung des Alkoholrausches als krankhafte seelische Störung (h.M.) oder tiefgreifende Bewusstseinsstörung (a.A.) ist umstritten. Eine abschließende Einordnung kann jedoch dahinstehen, da sie letztendlich stets zum identischen Ergebnis der Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störungen gem. § 20 StGB führt. Mithin sollte hier auch in der Klausur keine vertiefende Erörterung erfolgen.

2. Tiefgreifende Bewusstseinsstörung

Eine tiefgreifende Bewusstseinsstörung manifestiert sich in einer erheblichen Trübung des Bewusstseins (Fischer, § 20 StGB Rn. 27 ff.).
Beispiel: Eine erhebliche Bewusstseinstrübung aufgrund schwerer Erschöpfung, Hypnose oder hochgradiger Erregung (Affekthandlungen).

3. Intelligenzminderung

Eine Intelligenzminderung (früher im Strafgesetzbuch unter „Schwachsinn“ geführt) ist eine angeborene erhebliche intellektuelle Minderbegabung ohne konkret benennbare biologische Verursachung. Ein diesbzgl. Indiz ist der menschliche Intelligenzquotient (IQ von unter 50).
Sind die biologischen Faktoren hingegen benennbar (z.B. ein Gehirntrauma), liegt keine Schuldunfähigkeit aufgrund einer Intelligenzminderung, sondern aufgrund einer krankhaften seelischen Störung vor. Da der wissenschaftliche Kenntnisstand im Hinblick auf biologische Ursachen von Intelligenzminderungen in den vergangenen Jahrzehnten erheblich zugenommen hat und von einer Weiterführung dieses Fortschritts auszugehen ist, verbleibt einer Schuldunfähigkeit aufgrund einer Intelligenzminderung nur ein geringer Anwendungsbereich (vgl. Fischer, § 20 StGB Rn. 35; Schönke / Schröder – Perron / Weißer, § 20 StGB Rn. 18).

4. Schwere andere seelische Störung

Eine schwere andere seelische Störung umfasst v.a. schwere Persönlichkeits- und Triebstörungen (Fischer, § 20 StGB Rn. 36 ff.; Leipold / Tsambikakis / Zöller – Conen, § 20 StGB Rn. 75). Diese Fallgruppe hat keine Klausurbedeutung.

Die Bestimmung der BAK zur Tatzeit

Im Hinblick auf die klausurrelevante exogene Psychose des Alkoholrausches als akute Intoxikationsphase ist zu beachten, dass es keinen bestimmten Blutalkoholwert (BAK) gibt, bei dem stets eine Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störungen gem. § 20 StGB oder eine verminderte Schuldfähigkeit gem. § 21 StGB angenommen werden kann. Die von der Rechtsprechung entwickelten Richtwerte haben lediglich eine Indizwirkung. Aufgrund dessen sind die Umstände des jeweiligen Einzelfalls entscheidend. So ist v.a. die Trinkgewohnheit einer Person in strittigen Fällen ein Indiz gegen eine „volle“ Schuldunfähigkeit und für eine verminderte Schuldfähigkeit.

Volle Schuldfähigkeit

Bei einem Blutalkoholkonzentrationswert (BAK-Wert) von unter 2 Promille ist grds. von der vollen Schuldfähigkeit auszugehen.

Verminderte Schuldfähigkeit gem. § 21 StGB

Bei einem BAK-Wert ab 2 bis unter 3 Promille ist grds. von einer verminderten Schuldfähigkeit auszugehen. Bei Tötungsdelikten wird wegen der erhöhten Tötungshemmschwelle ein Wert ab 2,2 Promille gefordert.

Schuldunfähigkeit nach § 20 StGB

Ab einem BAK-Wert von 3 Promille ist grds. von der Schuldunfähigkeit auszugehen. Bei Tötungsdelikten wird wegen der erhöhten Tötungshemmschwelle ein Wert ab 3,3 Promille gefordert.

Rückrechnung

Die Blutalkoholkonzentration zum Tatzeitpunkt wird hierbei im Wege der Rückrechnung festgestellt. 
Auf der Schuldebene ist aufgrund des „in dubio pro reo“-Grundsatzes gem. Art. 20 III GG i.V.m. Art. 6 II EMRK von einem stündlichen Abbauwert von 0,2 Promille seit Trinkende (wenn der Zeitpunkt des Trinkendes nicht bekannt sein sollte, ist der Zeitpunkt der Tatbegehung gem. § 8 StGB maßgeblich) auszugehen. Auch gibt es einen einmaligen Sicherheitszuschlag von 0,2 Promille.

Beispielsfall

Wenn der trinkgewohnte Ehemann E seine Frau F um 11:00 Uhr alkoholisiert geschlagen hat und um 15:00 Uhr eine Blutprobenentnahme einen BAK-Wert von 0,6 Promille ergibt, dann ist davon auszugehen, dass er zum Tatzeitpunkt voll schuldfähig gehandelt hat. 
So ergibt sich im Wege der Rückrechnung auf der Schuldebene ein BAK-Wert von 1,6 Promille (0,6 Promille zum Zeitpunkt der Blutprobenentnahme + Sicherheitszuschlag i.H.v. 0,2 Promille + 4 Stunden seit Tatbegehung = 0,8 Promille = 1,6 Promille insgesamt).

Häufiges Folgeproblem: actio libera in causa

Klausuren, in denen der betrunkene Täter im Zustand der Schuldunfähigkeit handelt, steuern immer auf das Problem der actio libera in causa (alic) hin. Lies Dir hierzu gerne unseren ausführlichen Artikel durch.

Fazit zu § 20 Strafgesetzbuch

Die Schuldunfähigkeit wegen einer krankhaften seelischen Störung nach § 20 StGB ist ein beliebtes Prüfungsthema, wenn es um einen betrunkenen Straftäter geht. Die saubere Berechnung der Tatzeit-BAK wird dabei vom Prüfungsamt vorausgesetzt. Thematisch werden solche Klausuren häufig mit der actio libera in causa aus dem StGB AT und den Straßenverkehrsdelikten aus dem StGB BT kombiniert.
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Hendrik Heinze
Geschäftsführer der Assessor Akademie Kraatz und Heinze GbR
 


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