Verfahrensgrundsätze des Strafverfahrens (Prozessmaximen): Teil 2 von 2

13.03.2024 | von Hendrik Heinze
 

 
Die Verfahrensgrundsätze der Strafprozessordnung sind sowohl im Hinblick auf das 1. Staatsexamen und das 2. Staatsexamen prüfungsrelevant.

Verfahrensgrundsätze der StPO als Prüfungsgegenstand

Die Verfahrensgrundsätze der Strafprozessordnung besitzen aufgrund der häufig in Examensklausuren des 1. Staatsexamens gestellten Zusatzfrage bereits für Studenten eine nicht zu unterschätzende Bedeutung. Diese Bedeutung steigert sich für Referendare auf dem Weg zum 2. Staatsexamen (in Klausuren und der mündlichen Prüfung) und erst recht für die im Strafrecht tätigen Praktiker nochmals enorm. Denn nur wer die Bedeutung der strafprozessualen Prozessmaximen verinnerlicht, kann optimal auf betreffende Verfahrensfehler reagieren, die den Organen der Strafverfolgung unterlaufen. Verstöße gegen die Prozessmaximen können häufig außerdem zu den besonders klausurrelevanten Beweisverwertungsverboten führen. 

Nachdem wir in Teil 1 unsere Beitragsreihe zu den strafprozessualen Prozessmaximen bereits auf das Offizialprinzip gem. § 152 I StPO, das Legalitätsprinzip gem. §§ 152 II, 160 I StPO, das Akkusationsprinzip (Anklagegrundsatz) gem. § 151 StPO, den Ermittlungsgrundsatz (Untersuchungsgrundsatz, d.h. Ermittlungen von Amts wegen) gem. §§ 155 II, 160 II, 163, 244 II StPO, den Beschleunigungsgrundsatz gem. Art. 20 III GG i.V.m. Art. 6 I 1 EMRK und den Öffentlichkeitsgrundsatz gem. § 169 S. 1 GVG i.V.m. Art. 6 I 1 EMRK (in Summe also 6 Verfahrensgrundsätze) eingegangen sind, widmen wir uns in unserem heutigen Beitrag 10 weiteren wesentlichen strafprozessualen Verfahrensgrundsätzen.

7. Unmittelbarkeitsgrundsatz (§ 226, § 261 StPO und § 250 StPO)

a) Unmittelbarkeitsgrundsatz im materiellen Sinne (§ 250 StPO)

Nach dem Unmittelbarkeitsgrundsatz im materiellen Sinne gem. § 250 StPO hat das Strafgericht die Beweismittel selbst zu erheben und darf sie grds. nicht durch Surrogate ersetzen.
Sofern die Möglichkeit besteht, hat also aufgrund des Vorrangs des Personalbeweises vor dem Urkundenbeweis gem. §§ 249 ff. StPO i.d.R. die gerichtliche Vernehmung eines Zeugen gem. §§ 48 ff. StPO zu erfolgen.
Eine Dokumentenverlesung als Urkundenbeweis anstelle einer Vernehmung, und damit eine Durchbrechung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes im materiellen Sinne, ist hingegen nur in den Ausnahmefällen gem. §§ 251 ff. StPO möglich.
Der Unmittelbarkeitsgrundsatz im materiellen Sinne besagt aber nicht, dass immer das sachnächste Beweismittel im Strafprozess zu nutzen ist. Mithin ist auch die Vernehmung eines Zeugen vom Hörensagen möglich. Denn, auch wenn dieser nicht selbst die zu beweisende Tatsache wahrgenommen hat, berichtet er über eigene Wahrnehmungen (vgl. Witting, StraFo 2010, S. 133 ff.).

b) Unmittelbarkeitsgrundsatz im formellen Sinne (§ 226, § 261 StPO)

Nach dem Unmittelbarkeitsgrundsatz im formellen Sinne gem. §§ 226, 261 StPO müssen sowohl die zur Urteilsfindung berufenen Personen als auch die Staatsanwaltschaft und ein Urkundsbeamter der Geschäftsstelle in der Verhandlung grds. ununterbrochenen anwesend sein. Auch müssen sie die Fähigkeit aufweisen, um zu verhandeln und Erkenntnisse gewinnen zu können.
In diesem Sinne darf das Gericht seine Entscheidungen ausschließlich auf solche Wahrnehmungen stützen, die es während der Hauptverhandlung gemacht hat (vgl. Witting, StraFo 2010, S. 133 ff.).

8. Mündlichkeitsgrundsatz (§§ 261, 264 StPO)

Nach dem Mündlichkeitsgrundsatz gem. §§ 261, 264 StPO darf nur der in der Verhandlung mündlich vorgetragene und erörterte Prozessstoff einem Strafurteil zugrunde gelegt werden (Karlsruher Kommentar zur StPO – Fischer, Einl. StPO Rn. 15).
In diesem Sinne sind Urkunden gem. §§ 249 ff. StPO aufgrund von § 249 I StPO grds. zu verlesen. Etwas anderes gilt i.R.d. von dem Vorsitzenden Richter angeordneten Selbstleseverfahrens gem. § 249 II StPO, wenn das Gericht in den einschlägigen Fällen bereits von dem Wortlaut der Urkunde Kenntnis hat, die übrigen Verfahrensbeteiligten eine Gelegenheit bzgl. der betreffenden Kenntnisnahme hatten und Letztere dem Selbstleseverfahren nicht unverzüglich widersprechen.
Im Falle eines Widerspruchs entscheidet das Strafgericht hierüber durch einen gem. § 305 StPO nicht anfechtbaren Beschluss.

9. „In dubio pro reo“-Grundsatz (Zweifelsgrundsatz)

Nach dem „in dubio pro reo“-Grundsatz gem. Art. 20 III GG i.V.m. § 6 II EMRK wirken sich Zweifel an der Schuld des Angeklagten (i.R.d. Schuld- und Straffrage) zugunsten des Angeklagten gem. § 157 HS. 2 StPO aus. Es ist also die für ihn günstigste Rechtsfolge zu wählen (Karlsruher Kommentar zur StPO – Fischer, Einl. StPO Rn. 52). 
Im Ermittlungsverfahren gem. §§ 160 ff. StPO gilt der „in dubio pro reo“-Grundsatz hingegen nur mittelbar. So muss die Staatsanwaltschaft für die Anklageerhebung gem. § 170 I StPO nicht vollkommen von der Schuld des Beschuldigten überzeugt sein. Ein hinreichender Tatverdacht bzgl. einer Straftat ist bereits ausreichend (Karlsruher Kommentar zur StPO – Moldenhauer, § 170 StPO Rn. 3).

10. „Nemo tenetur“-Grundsatz (Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit)

Der Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit ist nicht in der StPO geregelt. Er wird aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht gem. Art. 2 I GG i.V.m. Art. 1 I GG und dem Rechtsstaatsprinzip gem. Art. 20 III GG abgeleitet. Hiernach muss sich ein Bürger gegenüber den Strafverfolgungsbehörden nicht aktiv an seiner eigenen strafrechtlichen Überführung beteiligen (Karlsruher Kommentar zur StPO – Fischer, Einl. StPO Rn. 258). 

11. „Fair trial“-Grundsatz (Gebot des fairen Strafverfahrens)

Nach dem „fair trial“-Grundsatz gem. Art. 20 III GG i.V.m. Art. 6 I 1 EMRK sind im Strafverfahren gewisse rechtsstaatliche Mindeststandards einzuhalten (Karlsruher Kommentar zur StPO – Fischer, Einl. StPO Rn. 111 ff.). Hierzu zählt z.B. das Recht auf eine effektive Verteidigung.
Dieser Verfahrensgrundsatz nimmt ggü. den übrigen Verfahrensgrundsätzen jedoch eine bloße Auffangfunktion ein.

12. Recht auf ein rechtliches Gehör (Art. 103 I GG)

Nach dem Grundsatz des Rechts auf ein rechtliches Gehör darf sich ein Bürger vor Gericht zu dem Tatvorwurf äußern, da er nicht zu einem bloßen Objekt des Strafverfahrens degradiert werden soll (Karlsruher Kommentar zur StPO – Fischer, Einl. StPO Rn. 105, 106).

13. Recht auf einen gesetzlichen Richter (Art. 101 I GG)

Nach dem Grundsatz des Rechts auf einen gesetzlichen Richter hat jeder Bürger einen Anspruch auf eine im Voraus festgelegte Regelung, welcher Richter über welche Strafprozesse entscheidet (Karlsruher Kommentar zur StPO – Fischer, Einl. StPO Rn. 99 ff.). 
Hierdurch sollen parteiische Ausnahmegerichte vermieden werden, bei denen Richter spontan die Möglichkeit haben, bestimmte Einzelfälle an sich zu ziehen. Mithin soll sichergestellt werden, dass der Bürger nicht seinem gesetzlichen Richter entzogen werden darf.

14. Freie richterliche Beweiswürdigung (§ 261 StPO)

Nach dem Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung gem. § 261 StPO darf das erkennende Gericht seine Entscheidungen ausschließlich auf solche Wahrnehmungen stützen, die es während der Hauptverhandlung gemacht hat. Ein Strafurteil hat also auf derjenigen Überzeugung zu beruhen, die das Gericht aus der betreffenden Verhandlung gewonnen hat (Meyer-Goßner / Schmitt – Schmitt, § 261 StPO Rn. 1 ff.).

15. Anwesenheitspflicht des Angeklagten (§§ 230, 231 StPO)

Nach dem Grundsatz der auf den §§ 230, 231 StPO beruhenden Anwesenheitspflicht des Angeklagten gem. § 157 HS. 2 StPO soll keine Hauptverhandlung ggü. einem abwesenden Angeklagten stattfinden. Hiervon kann nur in absoluten Ausnahmefällen abgewichen werden.

Beispiel: So muss der Angeklagte gem. § 157 HS. 2 StPO aufgrund von § 231 II StPO in der Hauptverhandlung nicht anwesend sein, wenn er sich eigenmächtig entfernt oder wenn er bei der Fortsetzung einer unterbrochenen Hauptverhandlung ausbleibt, sofern er bereits zur Sache vernommen wurde, das Gericht seine weitere Anwesenheit nicht für erforderlich hält und er in der Ladung darauf hingewiesen wurde, dass die Hauptverhandlung in diesen Fällen in seiner Abwesenheit zu Ende geführt werden kann.

Das Anwesenheitserfordernis i.S.d. §§ 230, 231 StPO erstreckt sich nicht nur auf die körperliche Anwesenheit des Angeklagten, sondern auch auf seine Verhandlungsfähigkeit (Meyer-Goßner / Schmitt – Schmitt, § 230 StPO Rn. 8).
Die Verhandlungsfähigkeit in Strafprozessen ist die Fähigkeit, in- und außerhalb der Hauptverhandlung seine Interessen vernünftig wahrnehmen zu können. Ein Verfahrenshindernis besteht nur bei der dauerhaften Verhandlungsunfähigkeit, wohingegen bei einer vorübergehenden Verhandlungsfähigkeit des Beschuldigten grds. Anklage erhoben werden kann. In letzterem Fall hat der Angeklagte jedoch in der betreffenden Hauptverhandlung wieder verhandlungsfähig zu sein, da ansonsten der absolute Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO in der Gestalt der vorschriftswidrigen Abwesenheit einer Person, deren Anwesenheit das Gesetz vorschreibt, in Betracht kommt (Meyer-Goßner / Schmitt – Schmitt, § 338 StPO Rn. 40).

Bei Volljährigen gem. § 2 BGB wird die Verhandlungsfähigkeit grds. angenommen. Etwas anderes gilt nur dann, wenn Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass der Täter aufgrund seiner geistigen und sittlichen Reife zu der Wahrnehmung seiner Interessen nicht angemessen in der Lage ist. Die Volljährigkeit ist für das Vorliegen der Verhandlungsfähigkeit jedoch nicht zwingend erforderlich (Meyer-Goßner / Schmitt – Schmitt, Einl. StPO Rn. 97).

16. Unschuldsvermutung (Art. 20 III GG i.V.m. Art. 6 II EMRK)

Nach dem Grundsatz der Unschuldsvermutung muss das Gericht in der Beweisaufnahme die Schuld des Angeklagten beweisen. Solange bis seine Schuld nicht rechtskräftig festgestellt wurde, gilt ein Bürger als unschuldig (Karlsruher Kommentar zur StPO – Fischer, Einl. StPO Rn. 135). 

Fazit zu den Prozessmaximen (Verfahrensgrundsätze) im Strafrecht

Auch wenn das Strafrecht vom Umfang her das „kleinste“ der drei Rechtsgebiete ist, darf es keineswegs unterschätzt werden. So fallen Strafrechtsklausuren sowohl im 1. Staatsexamen als auch im 2. Staatsexamen oft schlechter aus als diejenigen des Zivilrechts oder öffentlichen Rechts.
Dies hängt damit zusammen, dass das Strafrecht im Detail sehr komplex ist und Abweichungen der eigenen Arbeitsleistung von der Musterlösung deutlich strenger geahndet werden als in den anderen Rechtsgebieten. Gerade wer die Definitionen einzelner Rechtsbegriffe und die strafrechtlichen Streitstände nicht fast lehrbuchartig wiedergeben kann, macht sich beim Korrektor schnell unbeliebt.

In diesem Sinne macht bitte auch bei den strafprozessualen Prozessmaximen keine halben Sachen, sondern setzt Euch zumindest einmal wirklich ernsthaft mit ihnen auseinander. Wir hoffen, dass Euch unsere zweiteilige Beitragsreihe zu diesem Thema dabei helfen kann.
Unsere qualifizierten Dozenten der Akademie Kraatz (1. Semester bis 1. Examen) und der Assessor Akademie (2. Examen) stehen Euch gerne zur Seite, wenn Ihr Euch im Strafrecht verbessern möchtet. Ruft uns für einen kostenlosen Probetermin an.
Wenn Ihr mehr über die Verfahrensgrundsätze des Strafprozesses erfahren möchtet, schaut Euch auch Teil 1unserer Blogbeiträge zu den Verfahrensgrundsätzen des Strafverfahrens an.

Hendrik Heinze
Geschäftsführer der Assessor Akademie Kraatz und Heinze GbR
 


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