Im Hinblick auf die Sonderfälle des Vorsatzes dürfen spätestens im Examen keine Unklarheiten herrschen.
Nach § 15 StGB ist grds. nur ein vorsätzliches Handeln strafbar, wenn nicht das Gesetz ausdrücklich auch ein fahrlässiges Handeln mit Strafe bedroht.
Definition
Vorsatz ist das Wissen und Wollen bzgl. der Tatbestandsverwirklichung zu dem Zeitpunkt der Tatbegehung. Das besagt das Simultanitätsprinzip / das Koinzidenzprinzip i.S.d. § 8 StGB i.V.m. § 16 I StGB.
Neben den 3 Grundformen des Vorsatzes in der Gestalt der Absicht, des direkten Vorsatzes und des Eventualvorsatzes sind darüber hinaus 5 Sonderfälle zu unterscheiden. Zu diesen Sonderfällen zählen der dolus alternativus, der dolus cumulativus, der dolus antecedens, der dolus subsequens und der dolus generalis.
Dolus alternativus
Bei dem dolus alternativus weiß der Täter nicht mit Sicherheit, welchen Tatbestand er bei mehreren prinzipiell möglichen, sich aber gegenseitig ausschließenden Tatbeständen verwirklichen wird.
Die rechtliche Behandlung des dolus alternativus ist umstritten.
Nach einer Ansicht handelt der Täter nur bzgl. des schwersten Tatbestands vorsätzlich (Kühl, Strafrecht Allgemeiner Teil, § 5 Rn. 27 b). Entscheidend für die „Schwere“ einer Tatbestandsverwirklichung ist allgemein nicht die Höhe der höchsten Mindeststrafe, sondern die Höhe der maximal möglichen Höchststrafe (vgl. Leipziger Kommentar – Rissing-van Saan, § 52 StGB Rn. 52).
Nach einer anderen Ansicht handelt der Täter nur bzgl. des verwirklichten Tatbestands vorsätzlich (Nomos Kommentar zum Strafgesetzbuch – Zaczyk, § 22 StGB Rn. 20).
Nach einer weiteren Ansicht handelt der Täter bzgl. aller vorgestellten Tatbestände vorsätzlich (BGH, Urteil vom 14.01.2021 – 4 StR 95/20; Rengier, Strafrecht Allgemeiner Teil, § 14 Rn. 52).
Der dritten Ansicht ist zu folgen. Gegen die erste Ansicht spricht, dass sie das Vollendungsunrecht unter Umständen überhaupt nicht berücksichtigt. Außerdem bietet sie keinen Lösungsansatz, wenn mehrere gleich schwere Tatbestände vorliegen. Gegen die zweite Ansicht spricht, dass bei der Verwirklichung eines minder schweren Tatbestands sachwidriger Weise ein versuchter schwererer Tatbestand rechtlich nicht berücksichtigt werden würde. Darüber hinaus bietet sie keinen Lösungsansatz, wenn letztlich überhaupt keine Tatbestandsvollendung eintritt. Für die dritte Ansicht spricht hingegen, dass sich der Vorsatz des Täters vorliegend auf mehrere Rechtsgutsverletzungen bezieht. In diesem Sinne umfasst die dritte Ansicht den Unrechtsgehalt des Täterverhaltens am sachgerechtesten.
Um eine Gleichstellung mit dem dolus cumulativus zu vermeiden, bei dem der Täter mit einer Handlung zumindest billigend in Kauf nimmt, dass er mehrere Tatbestände verwirklicht, kann bei dem dolus alternativus der Wille, nur einen Tatbestand verwirklichen zu wollen, i.R.d. Strafzumessung mildernd berücksichtigt werden.
Dolus cumulativus
Bei dem dolus cumulativus nimmt der Täter zumindest billigend in Kauf, mit einer Handlung mehrere voneinander unabhängige Tatbestände zu verwirklichen. Hier handelt der Täter bzgl. aller Tatbestandsverwirklichungen vorsätzlich.
Dies ist z.B. dann der Fall, wenn ein Täter von einem Polizisten und dessen Polizeihund verfolgt wird. Um sich beider zu entledigen, gibt der Täter mit seiner Maschinenpistole mehrere Schüsse hinter sich ab. Hier bezieht sich der Vorsatz des Täters sowohl auf eine Tötung des Polizisten als auch auf eine Sachbeschädigung gem. § 303 I StGB des Hundes.
Dolus antecedens
Bei dem dolus antecedens besteht der Vorsatz nur vor dem Beginn der Tat (also im Vorbereitungsstadium oder früher). Er umfasst jedoch nicht den Zeitraum der Tatbestandsverwirklichung selbst und begründet in diesem Sinne keine betreffende Strafbarkeit.
Ein klausurrelevanter Fall ist in diesem Zusammenhang z.B. folgender: Der Täter möchte das Opfer ursprünglich töten, gibt den betreffenden Tatentschluss jedoch aus Mitleid auf. Versehentlich betätigt der Täter im Anschluss aber seine Pistole und erschießt das Opfer. Vorliegend handelt der Täter zu dem Zeitpunkt der Tatbegehung gem. § 8 StGB ohne Tötungsvorsatz. Es kommt jedoch eine fahrlässige Tötung gem. § 222 StGB in Betracht.
Dolus subsequens
Bei dem dolus subsequens besteht der Vorsatz erst nach der Tatausführung. Er umfasst jedoch nicht den Zeitraum der Tatbestandsverwirklichung selbst und begründet in diesem Sinne keine betreffende Strafbarkeit.
Zur Veranschaulichung sei folgendes Beispiel genannt: Wenn der Täter auf sein Opfer einen tödlichen Schuss abgibt, setzt eine Strafbarkeit wegen eines Tötungsdelikts gem. §§ 211 ff. StGB voraus, dass der Täter zu dem Zeitpunkt der Betätigung der Waffe über einen Tötungsvorsatz verfügt. Nicht ausreichend wäre es, wenn der Täter zeitlich erst zwischen der Abgabe des Schusses und dem tödlichen Treffer den Tötungsvorsatz fassen würde. Ein solcher dolus subsequens nach der Tatausführung ist bezüglich der Strafbarkeit des Täters unbeachtlich.
Dolus generalis
Nach der Lehre vom dolus generalis wurden früher Fälle gelöst, in denen sich der Täter insofern über den Kausalverlauf irrt, als dass bei einem einheitlichen zweiaktigen Handlungsgeschehen der tatbestandliche Erfolg nicht bereits wie gewollt durch die erste Handlung verwirklicht wird, sondern ungewollt durch die zweite Handlung. Der Täter handelt hier nach der Lehre des dolus generalis bzgl. des eingetretenen tatbestandlichen Erfolgs vorsätzlich, da bei einem einheitlichen Handlungsgeschehen ein Generalvorsatz besteht. Es ist also nicht erforderlich, zwischen den beiden Handlungsakten zu differenzieren, vielmehr erstreckt sich der Vorsatz der ersten Handlung automatisch auf die zweite Handlung (Welzel, Das deutsche Strafrecht, § 13 I 3 d).
Die Lehre vom dolus generalis ist jedoch abzulehnen, da sie eine unzulässige Fiktion zu Lasten des Täters darstellt. Schließlich handelt der Täter zu dem Zeitpunkt der Tatbegehung gem. § 8 StGB in der Gestalt des zweiten Handlungsakts nicht vorsätzlich (Verstoß gegen das in Art. 103 II GG und § 1 StGB geregelte Analogieverbot). Der Vorsatz muss sich nach dem Simultanitätsprinzip / Koinzidenzprinzip i.S.d. § 8 StGB i.V.m. § 16 I StGB jedoch stets auf die konkrete Tathandlung beziehen und nicht auf das allgemeine Tatgeschehen an sich.
Schlusswort
Die Sonderfälle des Vorsatzes sind höchst prüfungsrelevant (gerade im Examen). Hoffentlich konnten Euch die betreffenden Blogbeiträge helfen, juristisches Wissen nicht nur anzuhäufen, sondern auch dauerhaft zu behalten.
Seht Euch zu den Sonderfällen des Vorsatzes und der rechtlichen Lösung des Jauchegrubenfalls auch unsere entsprechenden YouTube-Videos an:
Klausurrelevante Basiskenntnisse: Die Sonderfälle des Vorsatzes
Klassiker des Strafrechts: Dolus generalis – Vorsatz beim mehraktigen Geschehen (Jauchegrubenfall)
Hendrik Heinze
Mitgeschäftsführender Gesellschafter der Assessor Akademie Kraatz und Heinze GbR
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